In
Berlin wusste Ende Januar 1945 die Journalistin Ursula von Kardorff
nicht, ob sie den eingehenden Berichten Glauben schenken sollte:
«Willy Beers Frau ist aus Schlesien nicht zurückgekommen.
Täglich liegen auf seinem Schreibtisch grauenvolle Nachrichten
über Untaten an der zurückgebliebenen Bevölkerung:
erschlagene Kinder, vergewaltigte Frauen, angesteckte Höfe,
erschossene Bauern. Goebbels’ Propagandahirn arbeitet offenbar
wieder fieberhaft. Oder sollte das alles doch wahr sein? Ich glaube
nichts mehr, ehe ich es nicht selbst gesehen habe.»[67] Doch die
Artikel trafen weitgehend zu. Ausgespart blieb jedoch, dass, einmal in
Gang gesetzt, Fahrzeuge der Wehrmacht die Flüchtenden
rücksichtslos von der Straße drängten, um selbst
voranzukommen. Hunderttausende wurden daher von der sowjetischen
Streitmacht eingeholt, ihnen drohten tatsächlich Vergewaltigung,
Verschleppung oder Tod.
Mehrere
Zehntausend Deutsche sollten im Zuge des sowjetischen Vormarsches
sterben. Der Rotarmist Gelfand befand in seinem Tagebuch, es geschehe
ihnen recht: «Tod um Tod, Blut um Blut. Mir tun diese
Menschenhasser, diese Tiere, nicht leid.»[68] Auch irritierte den
Ukrainer das gute Leben der Deutschen, die gepflegten Häuser, die
schönen Einrichtungen: Der «Reichtum und die Erlesenheit
dieser Sachen sind überwältigend. Unsere Slawen werden Augen
machen!»[69] Stalin ließ die zügellose Gewalt lange
Zeit nicht unterbinden. Zum einen kalkulierte er, auf diese brutale
Weise die gesamte deutsche Bevölkerung aus Osteuropa zu
vertreiben. Zum anderen wusste er, dass Plünderei und
Vergewaltigungen die Soldaten für das nicht nur in den
Kämpfen mit dem Feind, sondern auch in der eigenen Armee erfahrene
hohe Maß an Gewalt entschädigten. Gelfand jedenfalls
notierte: «Niemand verbietet uns, den Deutschen das zu nehmen und
zu zerstören, was sie zuvor bei uns geraubt haben. Ich bin
überaus zufrieden.»[70]
Auch
in Auschwitz breitete sich «Panik bei der SS»[71] aus, wie
Häftlinge auf einen Zettel kritzelten. Das Lager wurde Hals
über Kopf geräumt. Der Entschluss zur Verschleppung unter den
chaotischen Bedingungen einer Flucht führte zu unbeschreiblichen
Odysseen. Während das Lagerpersonal, aufgestockt auf fast
4.500 Mann, fieberhaft damit beschäftigt war, alle Akten und
sonstigen Zeugnisse des Massenmords zu beseitigen – gerade war
noch ein Häftling aus Mauthausen überstellt worden –,
ließ Himmler 58.000 Gefangene aus dem Stammlager, aus Birkenau,
Monowitz und den oberschlesischen Nebenlagern in weiter westlich
gelegene Lager marschieren. Wer keine Kraft mehr hatte, wer
stürzte, ausruhen wollte oder zu fliehen versuchte, den erschossen
die Begleitkommandos – Hauptsache, schnell weiter nach Westen,
weg von der roten Rache. Weitere Opfer erfroren und verhungerten
unterwegs, vermutlich starben 15.000 Häftlinge auf diesen
Todesmärschen. Den verlassenen Komplex von Auschwitz befreite die
60. Armee der Ersten Ukrainischen Front am Nachmittag des
27. Januar 1945. Die Soldaten fanden noch
8.200 Häftlinge vor, darunter 650 Kinder und
Jugendliche, die die enteilte Lager-SS als zu schwach
zurückgelassen hatte – die letzten Überlebenden unter
1,1 Million Ermordeten, darunter 900.000 Juden, 140.000
nichtjüdische Polen und 21.000 Sinti und Roma. Am gleichen Tag
nahmen die Truppen auch Kattowitz ein, damit war das wirtschaftliche
Zentrum Oberschlesiens in der Hand Stalins.
170 km weiter in Niederschlesien wurde Breslau seit dem 23. Januar attackiert. Ihrem
Gauleiter Karl Hanke, der die Stadt zur Festung erklärt hatte, waren die Bewohner
völlig egal. Wichtig war nur, dass «die Russen» die östlichste Großstadt im Deutschen
Reich nicht in die Hand bekämen. Während die Schlacht um Breslau tobte, rückten die
sowjetischen Verbände auch weiter nördlich vor. «Bromberg erobert. Ostpreußen überrannt,
270 km vor Berlin», titelte am 24. Januar
1945 die Erstausgabe der von der US-Armee lizensierten Aachener
Nachrichten. An diesem «Versagen» war auch der mittlerweile
landlose braune Zar der Ukraine und weiterhin Gauleiter von
Ostpreußen, Erich Koch, schuld. Er zwang die
Zivilbevölkerung zum Bleiben, während seine Ehefrau sich nach
Bayern aufmachte und er selbst in einem Pillauer Bunker saß
– direkt am Frischen Haff und mit einem bereitgehaltenen Flugzeug
für seine absehbare Flucht.
Ende
Januar riegelten die sowjetischen Verbände Ostpreußen ab. In
Panik versuchten die Eingeschlossenen, etwa zwei Millionen Menschen,
über die noch offenen Ostseehäfen zu entkommen. Klemperer gab
Gerüchte wieder: «Der Fischer verkauft die Plätze
für Schmuck (nicht Geld), drei- und viermal denselben; wer zuerst
kommt, wird mitgenommen, die andern sind betrogen.»[72] Etliche
ließen ihr Leben bei den sowjetischen U-Boot-Angriffen und dem
Beschuss aus der Luft. Kaltherzig erklärte Friedrich
Hoßbach, jetzt Oberbefehlshaber der in Ostpreußen
eingesetzten 4. Armee, seinen Generälen am 24. Januar
1945, dass die Zivilbevölkerung «zurückbleiben
muss». Das «klingt grausam, ist aber nicht zu
ändern»[73], man müsse zuerst die militärischen
Kräfte in die Heimat zurückbringen. Doch Marinedienststellen
ignorierten diese Befehle. Sie sorgten dafür, dass neben 350.000
Verwundeten immerhin 900.000 Menschen mit Handels- und
Kriegsschiffen gerettet wurden.
Anfang Februar hatte die Rote Armee nach nur drei Wochen das Generalgouvernement,
die annektierten polnischen Gebiete sowie große Teile Ostdeutschlands erobert. Ihre
Soldaten standen an der Oder, 70 km vor Berlin, zum Frontalangriff formiert und errichteten
Brückenköpfe auf dem Westufer. Heinrici schrieb ebenso überrascht wie konsterniert
an seine Familie, dass die Dinge «ein solches Ausmaß annehmen würden, das hat niemand
von uns für möglich gehalten oder geglaubt»[74]. Die Niederlagen im Osten und im Westen hinterließen wie die Luftangriffe auch unter
den Soldaten Desillusionierung. «Warum sollte ich kämpfen?», fragte sich ein Wehrmachtangehöriger
aus Hamburg. Es gehe, so fuhr er fort, «nur um die Existenz der Nazis. Die Überlegenheit
unseres Gegners ist so groß, daß es sinnlos ist, dagegen anzukämpfen.»
Wenn
sie nicht weitermachen wollten, blieben den Männern nur zwei
Optionen: überlaufen oder desertieren. Zwar legten es
Wehrmachtsangehörige in der folgenden Phase des Krieges mit
steigender Tendenz darauf an, in Gefangenschaft zu geraten. Doch das
war selbst im Falle der Westalliierten nicht ungefährlich, wie
gerade die Kämpfe in den Ardennen bewiesen hatten. Und zur brutal
agierenden Roten Armee wollte kaum jemand überlaufen, selbst wenn
diese die deutschen Gefangenen besser behandelte als umgekehrt und
gerade in den letzten beiden Jahren die Sterberaten der Deutschen
sanken. Desertion war ebenfalls kein sonderlich attraktiver Ausweg,
wollte man am Leben bleiben. Auf Fahnenflucht stand die Todesstrafe,
und die Militärrichter machten hiervon nicht zuletzt in neu
eingerichteten Fliegenden Standgerichten und unter den Augen der
Öffentlichkeit regen Gebrauch. Waren es im Ersten Weltkrieg noch
150 Verurteilte gewesen, von denen 48 hingerichtet worden waren,
ergingen nun etwa 22.000 Todesurteile der Militärgerichtsbarkeit,
von denen 15.000 vollstreckt wurden. Also setzten die deutschen
Soldaten den Kampf fort, verzweifelt und fatalistisch. «Wenn
dieser idiotische Krieg [nur] zu Ende ginge»,[75] fasste der
Hamburger Soldat den Widerwillen in Worte.
Eine Minderheit unter den Soldaten verstand sich jedoch nach wie vor als Exekutor
einer Weltanschauung. Diese Männer schwelgten in blutigen Vergeltungsphantasien gegenüber
Russen, aber auch Amerikanern. Deren Bombenangriffe und der von Goebbels’ Propagandaapparat
verbreitete, in den USA freilich nur kurzzeitig
ventilierte Morgenthau-Plan, Deutschland auf ein Agrarland
zurückzustufen, ließ die Ressentiments anschwellen.
«Der Schnee muss sich rot färben von amerikanischem
Blut», schrieb ein Leutnant über die «arroganten,
großmäuligen Affen aus der Neuen Welt»[76]. Wer nicht
desertieren, aber auch nicht für Hitler und die Existenz
Deutschlands kämpfen wollte, kämpfte für sich, für
sein Überleben, für eine Rückkehr zu seiner Familie.
Lindgren zitierte in ihrem Tagebuch aus einem Brief eines deutschen
Soldaten von der Ostfront an seine schwangere schwedische Ehefrau, der
ihr bei ihrer Arbeit für die Zensur in die Hände gekommen
war: «Die Tage kommen und gehen, und wir leiden unter Hitze und
Schlaflosigkeit. Jeden Tag derselbe ohrenbetäubende
Gefechtslärm. […] Werde ich jemals mein Kind sehen
dürfen? […] Den ganzen Tag habe ich meinen Graben
nicht für einen einzigen Augenblick verlassen können. Aber
man sagt sich wieder und wieder: Du musst es schaffen!»[77] Er
schaffte es nicht.
Hitler
selbst zog sich in den Bunker unter Haus und Garten der Reichskanzlei
zurück, nachdem bei Luftangriffen auf Berlin am 3. Februar
amerikanische Bomber seine Wohnräume zerstört hatten. Er
ließ an alle Divisionen Durchhaltebefehle ergehen. Etwas anderes,
als bis zum Letzten zu kämpfen und «niemals,
niemals»[78] zu kapitulieren, wie er schon während der
Ardennenschlacht seinen Generälen eingebläut hatte, war vom
«Führer» auch in den kommenden Wochen nicht zu
hören. Die über eine Million Soldaten, die außerhalb
Deutschlands in Norwegen, in Ungarn und Italien standen oder das
eingeschlossene Kurland sicherten, ins Reich umzudirigieren lehnte der
Oberbefehlshaber des Heeres ab. Anders als seine Militärs, die an
eine Verteidigung des Reiches dachten, wollte Hitler nur an die
Offensive glauben – oder den totalen, aber heroischen Untergang
realisieren. Der «Führer» blieb fixiert auf Erlösung durch Vernichtung, im Falle einer
Niederlage durch heldische Selbstzerstörung seines kriegführenden Reiches.
Mit Hitlers Untergang und allem, was anschließend kommen sollte, befasste sich das
nächste Gipfeltreffen der Alliierten Anfang Februar 1945. Roosevelt war gerade zum
vierten Mal zum Präsidenten gewählt worden. Man tagte auf Wunsch Stalins in Jalta.
Die Stadt auf der Krim war ein symbolträchtiger Ort, war sie doch bis vor einem Jahr
noch in deutscher Hand gewesen. Und in der Tat wurde die Konferenz für Uncle Joe zum
Heimspiel: Die West-Alliierten hatten ihre zweite Front zu spät aufgebaut, die Rote
Armee stand tief in Deutschlands Osten, beherrschte weite Teile Mittel- wie Südosteuropas,
hatte dort genehme Regierungen installiert und Vertreibungen eingeleitet. Das 1941
in der Atlantikcharta verankerte Recht aller Völker, die Regierungsform zu wählen,
unter der sie leben wollten, war Makulatur geworden. Der Diktator war dabei, seinen
Sicherheitskordon um die Sowjetunion zu errichten. Der schwerkranke Roosevelt konnte
Stalin nicht aufhalten, ohnehin war es zu spät für Kurskorrekturen. Dabei herrschte
unter den Delegationen der Großen Drei über die Zukunft Deutschlands noch Abstimmungsbedarf.
Gemeinsames Ziel war, nach der bedingungslosen Kapitulation die Macht des Deutschen
Reiches zu brechen. Man verständigte sich auf «vier Ds»: Demilitarisierung und Denazifizierung,
Dekartellisierung und Demontage der deutschen Industrie. Besatzungszonen, von denen
eine an Frankreich gehen würde, sollten an die Stelle territorialer Einheit treten,
ebenso würde Berlin in vier Sektoren aufgeteilt. Ökonomisch allerdings, so wandten
insbesondere die britischen Experten ein wäre diese Kleinstaaterei wenig sinnvoll.
Wie sollte ein zerstückeltes Deutschland die gerade von Stalin vorgebrachte Forderung
nach hohen Reparationszahlungen erfüllen? Und ob die deutsche Macht mit der politischen
Zergliederung gebannt wäre, ob die Deutschen wirklich Ruhe geben würden, bezweifelten
Churchills Beamten ebenso. So blieb Wesentliches offen.
Noch
während die Konferenz lief, starteten am 8. Februar 1945 die
Westalliierten ihren Angriff auf das Altreich. Die
Rückschläge in Arnheim und die deutsche Winteroffensive
ließen sie nochmals die Intensität der Luftschläge
erhöhen im Glauben, Deutschland in die Kapitulation bomben zu
müssen. Mit den massiven Fliegerangriffen wollte vor allem
Churchill zudem seinem ungeliebten Partner in Moskau die westliche
Luftmacht demonstrieren. Tausend Menschen pro Tag sollten zwischen
Januar und Mai 1945 ihr Leben lassen. Insgesamt verzeichnete das
Deutsche Reich etwa 420.000 Tote durch den Luftkrieg, darunter
auch Soldaten, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene; über die
Hälfte davon starb allein im letzten Kriegsjahr. Die
Flächenbombardements spielten der NS-Propaganda in die Hände.
Das galt insbesondere für den großen Brandbombenangriff auf
das mit Flüchtlingen überfüllte und bis dato weitgehend
verschonte Dresden zwischen dem 13. und 15. Februar. Das
Auswärtige Amt wies seine Auslandsvertretungen an, von bis zu
200.000 Toten zu sprechen; an den ursprünglichen Bericht der
SS hängte es einfach eine Null an. Tatsächlich kamen etwa
23.000 Menschen ums Leben. Die Botschaft war klar: Die Alliierten
verfolgten nicht etwa militärische Absichten, sondern wollten die
Deutschen vernichten. So projizierte man die eigene Vernichtungspolitik
auf die Kriegsgegner.
Dabei
war das Regime schon längst dabei, seine Volksgenossen nicht nur
mit Propaganda, sondern auch mit Terror zur Pflichterfüllung bis
zum Letzten zu treiben. Dass Hitler als Reaktion entschied, Berlin mit
«‹Krallen und Zähnen› zu
verteidigen»,[79] und dafür gleich vier SS-Divisionen
mobilisierte, ließ Ruth Andreas-Friedrich in der Hauptstadt
schaudern. Die Bombardierung Dresdens bedeutete hingegen für
Klemperer die Rettung. Er hatte gerade als «Hiobsbote»[80]
Deportationsbescheide an Mischlinge und Partner in Mischehen zustellen müssen. In
größter Verzweiflung, bald ebenfalls auf den Listen zu
stehen, nutzte das Ehepaar das Chaos der brennenden Stadt und tauchte
unter. Eva Klemperer entfernte «mit einem
Taschenmesserchen»[81] ihrem Mann den vermaledeiten Stern von der
Jacke, Victor Klemperer wurde zum «arischen»
Flüchtling – wie Millionen andere auch.
Die
Zahl der Menschen, die durch die immer kleiner und immer stärker
zum Schlachtfeld werdende «Festung Deutschland» zogen,
schwoll weiter an durch ausländische Zwangsarbeiter. Durch die
Bombenangriffe waren diese Männer und Frauen ihren Bewachern
entkommen oder im allgemeinen Chaos obdachlos geworden und befanden
sich nun auf der Suche nach Unterkunft und Nahrungsmitteln. Die schon
vorher geäußerten Befürchtungen über das
«Ausländerunwesen» und auftrumpfende
Zwangsverpflichtete bekamen immer wieder Nahrung, wenn Zeitungen
über «Ostarbeiter-Banden» berichteten, die stahlen
oder ihre ehemaligen Chefs erschlugen.
In
Europa verstärkten die Untergrundbewegungen den Druck auf die
deutschen Noch-Besatzer. Luise Solmitz las am 22. Februar in der
Zeitung, dass «in Norwegen schwere Sprengstoffattentate,
Mordanschläge, Anschläge gegen Eisenbahnen, Garagen,
Tankstellen, Fabriken, Betriebe, Mitglieder der norwegischen
Polizei» verübt worden waren, über 30
«Terroristen»[82] seien hingerichtet worden.
Dann, am 7. März, gelang den westlichen Streitkräften der Anti-Hitler-Koalition der
entscheidende Sprung. Amerikanische Verbände eroberten die einzig verbliebene Brücke
über den Rhein bei Remagen. Die Sprengung der Trasse war den Deutschen missglückt,
der direkte Weg ins Reich war frei. Hitler entließ den mittlerweile wieder eingesetzten
Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, ein weiteres Mal in
den Ruhestand, sein Nachfolger Albert Kesselring erklärte Remagen zur «Schande»[83], der verantwortliche Major wurde zum Tode verurteilt, was Goebbels als «Lichtzeichen»
deutete. «Nur mit solchen Maßnahmen können wir das Reich noch retten.»[84]
Nun
stand der Feind tatsächlich in Deutschland. Jenseits aller
Propaganda hatte die Mär vom Verteidigungskrieg, einerlei, ob sie
bislang geglaubt worden war oder nicht, einen realen Gehalt bekommen.
Jede alliierte Bombe, jeder sowjetische Übergriff bekräftigte
die Rhetorik von der Heimatverteidigung. Gegen die Drohungen der
braunen «Bankrotteure» mit dem «Untergang» und
die Ängste vieler Deutscher vor einer Ausradierung ihres Landes
focht Thomas Mann, als er via BBC statuierte: «Das ist ja
Unsinn!» Deutschland sterbe nicht, sondern sei «im Begriff,
eine neue Gestalt anzunehmen»[85]. Nicht zuletzt aufgrund dieser
Zukunftsverweigerung sei die Fortsetzung des Krieges «ein
Verbrechen – begangen am deutschen Volk durch seine
Führer».[86] Dieses Urteil wiederum wollte Oberwachtmeister
Peter B. nicht wahrhaben. Er erschrieb sich Anfang März noch
einmal sein ganzes Vertrauen in Hitler: «Der Führer ist kein
Lump und nicht so schlecht, ein ganzes Volk zu belügen und in den
Tod zu jagen. Bis heute hat der Führer immer uns seine Liebe
geschenkt und uns die Freiheit versprochen und all seine Planungen wahr
gemacht. […] Nur unser Glaube macht uns stark, und ich baue
auf die Worte des Führers, daß am Ende allen Kampfes der
deutsche Sieg stehen wird.»[87] Gleiches hoffte auch eine Mutter
in Kaarßen bei Lüneburg und schloss den Brief an ihren Sohn:
«Es grüßt Dich von ganzem Herzen mit heil Hitler
Mamma.»[88] In Hamburg dagegen registrierten Stimmungsberichte
eine weitverbreitete Sehnsucht nach dem Ende des Krieges:
Äußerungen wie «Ganz gleich, was kommt, nur
Schluß machen» zeigten, dass der Krieg als verloren
akzeptiert werde und die Hoffnungen auf das Regime auf fast Null
gesunken seien. Zugleich sei in der Hansestadt die Furcht vor einer
britischen Besatzung, die als die wahrscheinlichste gelte, wenig ausgeprägt. In
Bunkern, Kneipen, Straßenbahnen würden Sätze fallen
wie: «Jetzt aber soll der Tommy kommen und Schluß machen,
damit wir wieder ein vernünftiges und geordnetes Leben führen
können.»[89]
Das
«vernünftige Leben» aber sollte noch auf sich warten
lassen. Am 22. März schrieb Klemperer, die Anglo-Amerikaner
und Russen kämen zwar schrittweise vorwärts, «aber es
geht nervenzermürbend langsam, und die eigentliche
Schlußoffensive, auf das Ruhrgebiet, auf Berlin, steht immer noch
bevor»[90]. Hitler ignorierte unterdessen die leisen
Beschwörungen aus den eigenen Reihen, die Niederlage
einzugestehen, und reagierte auf Remagen mit einer weiteren Eskalation.
Er erließ am 19. März 1945 den Befehl über
«Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet». Dem
Gegner sollte nun auch in Deutschland und ohne Rücksicht auf die
Zivilbevölkerung nur verbrannte Erde überlassen werden.
Inzwischen hatten sich die Westalliierten aufgeteilt.
Kanadisch-britische Einheiten rückten in die Niederlande vor. Die
Bevölkerung dort geriet immer stärker zwischen die Fronten,
«Beschießungen aus englischen Flugzeugen»[91]
einerseits und der «Menschenfang»[92] der Deutschen
andererseits, die nach Männern zum Ausschanzen suchten. Auch hier
häuften sich die Attentate. Im März führten
Untergrundkämpfer einen Anschlag auf den HSSPF Hanns Albin Rauter
durch. Als Vergeltung ließen die deutschen Besatzer noch einmal
263 politische Gefangene hinrichten. In Amersfoort hielt die Nichte von
Eberhard Gebensleben, die 15-jährige Hedda Kalshoven, am
23. April in ihrem Tagebuch fest, welche Spannung über ganz
Europa liege, und fluchte: «Daß wir immer noch nicht
befreit sind, verdammt noch mal.»[93]
Während britische Truppen sich nach Norden wandten, marschierten amerikanische Verbände
nach Osten und Süden, französische nach Südwesten. Die Deutschen im Reich erlebten
nun nach
den ständigen Luftangriffen auch den Bodenkrieg. Panzer an Panzer
rollten durch die Straßen, Artilleriebeschuss und Tiefflieger
beherrschten die Szenerie, es roch nach verkohlten Körpern.
«Deutschland ist auf dem Weg, dem Erdboden gleichgemacht zu
werden»,[94] resümierte Astrid Lindgren ihre tägliche
Presselektüre am 23. März. Melvin Lasky, 25 Jahre
alt und im Tross der US-Armee als Militärhistoriker dabei, war am
9. April entsetzt über die Ruinenlandschaft von Darmstadt:
Man finde «kein einziges intaktes Haus! Alle Gebäude
zerbombt, ganze Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht. Wir sind
viele Kilometer gefahren und trauten unseren Augen nicht. Eine ganze
Stadt war verschwunden.»[95] In Frankfurt hörte er zwei Tage
später keinen Laut, die «Stille war
überwältigend». Er sah «den verkohlten,
geschrumpften Leichnam einer Großstadt»[96]. Erst als er
durch deutsche Trümmerlandschaften zog, erkannte Lasky das
Ausmaß der Katastrophe dieses Krieges für Deutschland. Die
Verheerungen auf dem osteuropäischen Kriegsschauplatz hingegen
blieben ungesehen und Berichte hierüber im Westen eher vereinzelt.
In Großbritannien entspann sich eine Debatte darüber, ob die
Bombenangriffe auf das Reich in diesem Ausmaß noch ethisch
vertretbar seien. Churchill beugte sich der Kritik und ließ am
28. März den Luftkrieg über Deutschland weitgehend
einstellen. Allerdings vergaß er nicht anzufügen, dass man
andernfalls nur die Kontrolle über ein verwüstetes Land
übernehmen würde.
Mittlerweile waren etwa 250.000 Juden in Konzentrations- und anderen Lagern im Reich
eingesperrt worden, die, je näher die Front im Osten wie im Westen rückte, umso hektischer
aufgelöst wurden. Zusammen mit rund 500.000 nichtjüdischen Gefangenen wurden sie auf
Todesmärsche geschickt. Ziele sollten Orte im zusammenschmelzenden Reichsinneren sein.
Aufgrund der weitgehenden Improvisation – Straßen waren unpassierbar, von Flüchtlingen
und Armeefahrzeugen verstopft – konnten sich die Routen aber auch
schnell ändern. Weiterhin galt: Kein Gefangener sollte lebend dem
Gegner in die Hände fallen. Vermeintlich arbeitsfähige
Männer und Frauen, so Himmler, sollten noch schnell uneinnehmbare
Festungen errichten oder das zukünftige SS-Wirtschaftsimperium
begründen. Zudem revitalisierte er die Idee, Juden als politische
Geiseln einzusetzen. Mit ihnen wollte er die Westmächte zum
Separatfrieden zwingen. Den Wachposten, die die Transporte begleiteten,
war es am wichtigsten, ihren Zielort so rasch wie möglich zu
erreichen, sie hatten Angst vor Repressalien der Alliierten. Verluste
waren den Aufsehern egal. Besser ein toter Häftling als ein
geflohener, lautete das Prinzip. Vermutlich 80.000 Juden und
170.000 Nichtjuden starben. Die deutsche Zivilbevölkerung
beobachtete den Durchzug der geschwächten Gestalten
argwöhnisch. Wenige halfen, viele verhielten sich feindselig
gegenüber den ausgezehrten «Kriminellen» und
wiederkommenden Juden. Manchen erschienen die Gefangenen als eine Art
Menetekel für die Niederlage und die eigene Komplizenschaft. Wie
die SS-Posten suchten auch lokale NS-Funktionäre, Volkssturmleute,
Polizisten und Bürgermeister ebenso wie selbsternannte
Ordnungshüter sich ihrer fieberhaft zu entledigen – und das
hieß in der Regel Mord.
Im Westen nahmen die alliierten Streitkräfte nun täglich deutsche Städte ein. Die
Reichsverteidigung brach zusammen, und der erwartete Partisanenkrieg blieb aus. Wenn
sie sich dazu entschlossen hatten und nicht durch Fliegende Standgerichte oder plötzlich
auftauchende SS-Einheiten daran gehindert wurden, schwenkten Bürgermeister und Honoratioren weiße
Fahnen – nichts so sehr fürchtend, als ihre Ortschaften sinnlos kaputt schießen zu
lassen. Mutige beseitigten Panzersperren – und verbrannten ihre Parteiuniform. Andere
entfernten Hitler-Bilder aus ihrer Wohnung, eine Dame auf Besuch brachte es, wie Klemperer
niederschrieb, auf die Formel: «Ich habe ihn
eingeäschert.»[97] Himmler versuchte, diese Akte des
vorgeblichen Hochverrats mit dem bewährten Mittel der Gewalt
aufzuhalten. Anfang April 1945 ordnete er als Befehlshaber des
Ersatzheeres an, alle männlichen Personen eines Hauses, an dem
eine weiße Fahne erscheine, zu erschießen. Unterstützt
wurde er durch seine «Nazi-Freiheitsbewegung»[98], wie
Thomas Mann die von Himmler organisierten Paramilitärs der
«Werwölfe» ironisierte, sowie wiederum von
selbsternannten Rächern der Volksgemeinschaft. In der sich
auflösenden staatlichen Ordnung wurden Tötungen von
Volksgenossen durch Volksgenossen zur alltäglichen
Erscheinung.
Aber
alle Gewaltakte, alles Drohen und alle Durchhalteparolen brachten
nichts: Das Dritte Reich war geschlagen. Nicht nur die Mehrheit der
Zivilisten auch die Wehrmachtsverbände zeigten sich ermüdet.
Schon Ende März hatte Lasky erkannt: «Seit den Stellungen am
Westwall hatten die Deutschen nichts mehr zu bieten. Sie ergeben sich
zu Hunderten und marschieren praktisch ohne Bewachung zu den
Sammelplätzen.»[99] Der letzte Brief von Böll datierte
vom 3. April 1945, geschrieben in Oberauel, einem kleinen Ort am
Rhein. Die Amerikaner am gegenüberliegenden Ufer beobachtend,
ließ Böll noch einmal kurz die Überlegung zu, dass
«wir» Deutsche «wirklich spielend» mit den
Amerikanern «fertig»würden, die «ganz unerfahren
und naiv» herumlaufen, «[w]enn wir mehr und bessere Waffen
hätten». Aber dann rang sich der Patriot und Hitler-Gegner
doch dazu durch, nicht nur aufs Ende zu blicken, sondern die Niederlage
auch gutzuheißen. Es «geht ja nun wirklich nicht mehr
weiter. Allem menschlichen Wahn ist ja eine Grenze gesetzt, und diese
Grenze ist erreicht.»[100]
Anders war die Lage an der Ostfront. Hier schlugen sich die deutschen Soldaten «wie
irrsinnig»[101] mit den sowjetischen Soldaten um eine unbedeutende Bahnstation, wie Stalin, ob der
ungleichen
Verhältnisse in West und Ost misstrauisch geworden, am
7. April 1945 Roosevelt in einem Brief vorhielt. Er hatte im Kern
richtig beobachtet. Gegen die Rote Armee kämpften die
Wehrmachtsangehörigen verzweifelt; die Angst um sich und ihre
Familien, das Gefühl vollkommener Alternativlosigkeit waren
wesentlich ausgeprägter als im Westen. Ein im Kurland
eingeschlossener Stabsgefreiter mahnte Ende März seine Frau in
Württemberg, bloß nicht zu fliehen. «Vor dem
Amerikaner» habe er – anders als vor dem «Iwan»
– «keine Angst». Indirekt deutete auch er an, dass er
den Krieg für verloren hielt. Flüchten, so fügte er
nämlich an, sei überhaupt sinnlos, denn: «einmal kommt
der Feind doch zu Euch»[102]. Rotarmist Gelfand wiederum
beschrieb diese Schlachten mit der Wehrmacht als unbeschreiblichen
«Alptraum». Wenigstens die Hälfte der Mannschaften an
seinem Frontabschnitt 70 km vor Berlin sei in die
«Fänge des Todes»[103] geraten oder habe Verwundungen
erlitten.
Aus
Ungarn mussten sich Anfang April die letzten Wehrmachtseinheiten
zurückziehen, das Land wurde vollständig von der Sowjetunion
besetzt. Am 3. April nahmen Stalins Truppen Wien ein. Hier wie
dort wiederholte sich, was sich auf ihrem gesamten Vormarsch in
Dörfern wie in Städten schon abgespielt und was zumindest in
diesem Umfang keine Entsprechung im Westen hatte: Eine Soldateska
brandschatzte, plünderte, vergewaltigte, tötete. Auf Wien
folgte Berlin.