Wie ist es, wenn die Zivilisation, wie man sie
kannte, zerfällt und man sich plötzlich im von den
Barbarenhorden überrannten Rom wiederfindet?
Ende April 1945 beginnt Anonyma, die ungenannte Verfasserin, ihr
Tagebuch von den Geschehnissen, die über Berlin hereinbrechen.
In den Trümmern der umkämpften Hauptstadt wird
Anonyma zu einer der rund zwei Millionen von der Roten Armee
massenvergewaltigten deutschen Frauen. Was sie jedoch von ihren
Leidensgenossinnen unterscheidet, ist etwas, von dem sie selbst nicht
recht weiß, ob es Segen oder Fluch ist – sie
beherrscht einen Grundwortschatz Russisch. So wird sie nicht nur auf
beiden Seiten der Sprachbarriere bekannt als „die Frau, die
russisch spricht“, sondern sie gewinnt auch einen raren
Einblick in die Persönlichkeiten ihrer Besatzer…
und lernt, dies zu ihrem Vorteil auszuspielen. Um den
ständigen Nachstellungen zu entgehen, sucht und findet sie
einen Gönner unter den Offizieren, was ihr als begehrten
Nebeneffekt auch Nahrung und sogar Luxusgüter wie Alkohol und
Zigarren einbringt.
Eine
Frau in Berlin war die erste
„Dokumentation“ der Massenvergewaltigungen und
löste bei ihrem Erscheinen 1959 in Deutschland einen Skandal
aus. In Reaktion dazu verfügte die Autorin, daß zu
ihren Lebzeiten keine weitere deutsche Auflage herausgegeben
würde. (Im Ausland blieb das Buch erhältlich.) Es war
wohl nicht so sehr die Tatsache der Vergewaltigungen; davon
wußte jeder, auch wenn keine großen Worte
darüber verloren wurden. Ich glaube auch nicht, daß
sich – wie ein amerikanischer Rezensent des Films
(später mehr dazu) meint – die Empörung in
erster Linie gegen die Suggestion richtete, deutsche Frauen
hätten sich für Essen und Schutz prostituiert.
Vielmehr dürfte sich den Kritikern das gleiche Entsetzen
bemächtigt haben, das sich auch in Anonymas heimkehrendem
Verlobten und in geringerem Maße in ihrem Bekannten und
späteren Mentor C. W. Ceram findet und von dem auch der
heutige Leser nicht verschont bleibt: Die Fassungslosigkeit
über die Abgebrühtheit und (um diesen Begriff zu
verwenden) Schamlosigkeit, mit der Anonyma wie auch andere Frauen
über ihre Erlebnisse berichten, Witze und Zoten
reißen.
Wer aber genauer hinliest, begreift. Hysterie gärt unter der
Oberfläche, die sich bei jeder passenden und unpassenden
Gelegenheit mit Worten ein Ventil verschafft. Wenn Anonyma und viele
ihrer Bekannten das ihnen Angetane als Standardunterhaltungsthema
führen, dann, weil es das einzige ist, das in diesem Monaten
Gewicht für sie besitzt. Vielleicht sieht man hier aber auch
etwas sehr Großstädtisches, möglicherweise
sogar die sprichwörtliche Berliner Schnauze? Denn unter allen
Zeugenberichten, die ich gelesen habe, ist diese Art der Verarbeitung
einzigartig. Selbst Anonyma beschreibt das Verhalten der
„Zugereisten“, der in Berlin gestrandeten
Flüchtlingsfrauen, als anders. Die einen halten an ihrem Stolz
fest und leiden schweigend, die anderen legen sich ein dickes Fell zu.
Im Krieg sind nicht nur Soldaten verroht, sondern auch Frauen.
Zweifellos ist das Teil dessen, worüber Wladimir Gelfand, damals ein junger Leutnant in der Roten Armee, in seinem Deutschland-Tagebuch schreibt. Ich habe dieses Buch nie in seiner Gänze geschafft, zu fremd, geradezu weltfremd, möchte man sagen, lesen sich viele Beobachtungen. Wenn sie auch einen Einblick in eine völlig andere Denkungsart geben. (Man vergleiche mit den Aussagen russischer Veteranen in Helke Sanders BeFreier und Befreite. Echte Parallelwelt.) Gelfand war, möglicherweise seinem gebildeten Elternhaus geschuldet, kein Vergewaltiger, aber er war gewiß kein Kostverächter. (Tatsächlich gehört seine ungeschminkte Schilderung, wie er in Berlin seine Unschuld verlor, zu den wenigen Passagen, bei denen man ehrlich und herzhaft lachen kann.) Er hatte auch etwas Idealistisches und zugleich hoffnungslos Naives, gerade im Zentrum der um ihn tobenden Greueltaten, von denen er selbstverständlich wußte, obwohl er sie nicht als Verbrechen zu werten schien. Noch vor Berlin wurde ihm von einer verzweifelten Familie angetragen, die in der vergangenen Nacht von zwanzig Soldaten vergewaltigte Tochter zu seiner Geliebten zu machen, um sie vor weiteren Übergriffen zu schützen – was ihm sein Anstand verbot. (Wie bei Anonyma zeigt sich, daß Anstand in Situationen wie dieser eine fragwürdige Definition erlangt.) Später, in Berlin, beginnt seine Suche nach weiblicher Gesellschaft… und zwar nach anständiger Gesellschaft. Doch geradezu angewidert stellt er fest, daß diese Mangelware ist und alle Mädchen, die im Dunstkreis der Roten Armee operieren, etwas Hurenhaftes an sich haben. Woraufhin die Leserin ihm gern einige Takte erzählen möchte…
In Eine Frau in Berlin jedenfalls schimmert der
Ekel über das Erlebte, über das eigene Verhalten
zwischen aller „hurenhaften“
Kaltschnäuzigkeit nur zu deutlich durch. Auch die eiserne
Selbstbeherrschung, wenn Anonyma sich stellt, als verstünde
sie nicht und nur höflich lächelt, während
Rotarmisten dreckige Sprüche über sie
reißen; wenn sie einen versuchten Vergewaltiger
zurück ins Bett zieht, damit er ihr im Ärger
über ihre Abwehr nicht den Schädel
einschlägt. Keine der so flapsig dahinredenden Frauen
drückt später das Verlangen oder auch nur die
Fähigkeit aus, in absehbarer Zukunft
„normal“ mit einem Mann zusammenzusein.
C. W. Ceram scheint ebenfalls etwas von diesen Dingen verstanden zu
haben. In seinem Nachwort mahnt er, kein Mann habe das Recht zu
richten, der nicht selbst vor einer Maschinenpistole gestanden und der
Ehefrau oder der Tochter gesagt habe: „Nun geh’
schon mit.“ Es sind dies höllische Geschehnisse, von
denen man sich heute nicht einmal mehr ansatzweise vorstellen kann,
daß sie hierzulande passiert sind.
Dessen ungeachtet jedoch war ich erstaunt, wie viel Humor in Eine Frau in Berlin enthalten ist, und zwar nicht nur der zynische vom Galgen. Die Schilderungen der verträglicheren Hausgäste oder diverser Situationen sind einfach nur zum Brüllen komisch.
Mal ehrlich…
Dezember 20, 2011 von schnabeline
Wieso sucht jemand mit der Suchanfrage „sauerei in den bergen“ mein Blog auf? Zweifellos habe ich über Berge geschrieben. Und garantiert habe ich irgendwo den Begriff „Sauerei“ verwendet. Aber keine Suchmaschine könnte diese Treffer so zusammengestellt haben, daß… meine ich jedenfalls.In einen ähnlich spannenden Bereich ging die Anfrage „deutsche pornographie“. Jup, deutsch wird man bei mir häufig finden, Pornographie genau einmal. Aber ebenfalls nicht in Kombination. Außer in diesem aktuellen Beitrag. Vielleicht sollte ich über die Folgen seiner Veröffentlichung nachdenken.
Überraschend (für mich) häufig gesucht wurde Gelfands Deutschland-Tagebuch, und auch die Rote Armee in und außerhalb von Berlin war offenbar von nicht geringem Interesse. Ich empfehle dem/der/den Suchenden meine Beiträge zu Ingo von Münchs „Frau, komm!“, zu Anonyma Teil 1 (Buch) und Teil 2 (Verfilmung) sowie im verwandten Bereich zu meiner „Zufalls“bekanntschaft. Wladimir Gelfands Werk gibt’s bei Amazon und über jede Buchhandlung.
© schnabeline