Das Kriegsende 1945 verbrachte Vladimir Gel’fand als Offizier der Roten Armee in Berlin. Trotz Verbot führte er ein privates Tagebuch und hielt mit seinem Fotoapparat viele Alltagsszenen fest, die darüber Auskunft geben, wie die Kapitulation und die ersten Monate danach von den Berlinern erlebt wurden.
Der Fotoapparat, der neben über 500 weiteren Exponaten derzeit im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin zu sehen ist, könnte als Symbol stehen für die Ausstellung, mit der der Niederlage, der Befreiung und des Neuanfangs im Frühjahr 1945 gedacht wird. Viel dokumentarische Genauigkeit. Viel Liebe zum Alltagsdetail. Und wie bei vergessenen Fotokisten viel beziehungsloses Nebeneinander. Erst der Erinnerungsfaden des Fotografen stiftet Sinn. Erst die Ausstellungsmacher bauen Sinnbrücken und Erinnerungsstege, um ein so unfassbares Ereignis fassbar zu machen.
Doch die lassen sich nur mühsam finden und erst anhand des Begleitkatalogs erschließen. Sichtlich vom Cultural Turn inspiriert, wühlen die Kuratorinnen Maja Peers und Babette Quinkert tief in biografischen Erinnerungskisten: Aus Norwegen stammt eine Balalaika, die ein sowjetischer Kriegsgefangener der Stadt Kristiansand anlässlich des Nationalfeiertags geschenkt hat; in einem Festgewand in französischen Nationalfarben und mit dem Lothringer Kreuz wollte Jeanine Brulé ihren Vater, Widerstandskämpfer und inhaftiert im KZ Struthof, begrüßen. Ein Brettspiel aus den Niederlanden jongliert mit „richtigen“ und „falschen“ Verhaltensweisen den deutschen Besatzern gegenüber.
Doch um das Kriegsende in zwölf Länderstationen, deren Auswahl reichlich beliebig wirkt – warum Luxemburg und nicht Italien, warum Norwegen und kein einziger Staat in Südosteuropa? –, in den Blick zu nehmen und daraus eine große Erzählung zu machen, bedarf es mehr als der Aneinanderreihung von vielen kleinen Geschichten, die in den Exponaten zwar aufbewahrt, aber in den meisten Fällen nicht auserzählt sind. Dazu fehlt nicht nur der Raum im etwas abseitigen Kellergewölbe des DHM, sondern auch eine übergreifende Idee, möglicherweise unter dem Druck der Zeit.
Zeitzeugen auf Stelen
Zwar bekommt man eine Ahnung, in welchem Zustand sich die einst von den Deutschen besetzten Länder 1945 befanden, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatten; man wird Zeuge der gewaltigen Migrations- und Bevölkerungsbewegungen, nicht nur in Polen oder der Tschechoslowakei, sondern auch in Westeuropa, und erfährt etwas über den Umgang mit Kollaborateuren, wobei Frauen, die sich mit den Besatzern eingelassen hatten, in vielen Ländern besonders gedemütigt wurden. Aber es bleiben Schnappschüsse der Erinnerung, die sich nicht zusammenfügen.
Wirklich irritierend aber ist die Idee, die Porträts der 36 stellvertretenden Zeitzeugen, mit denen die Besucher empfangen werden, auf Holzstelen zu präsentieren. Die an das Berliner Stelenfeld gemahnende Ausstellungsarchitektur mag, soweit es sich um Stellvertreter der 20 Millionen Waisen und Halbwaisen, 400.000 befreiten KZ-Häftlinge, sieben Millionen Zwangsarbeiter, 40 Millionen Heimatlosen oder 45 Millionen Kriegstoten handelt, noch angemessen erscheinen. Im Falle von Kollaborateuren, Besatzungsoffizieren oder Politikern wirkt das etwas deplatziert.
Info
1945-Niederlage. Befreiung. Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg DHM, Berlin, bis 25. Oktober