Zusammenfassung
Die Berlin ummantelnde Region Brandenburg stellte 1945 den wichtigsten Kriegsschauplatz zu Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa dar. Ende Januar 1945 war es sowjetischen Einheiten gelungen, auf breiter Front in die Region und damit auch im Mittelabschnitt der Ostfront in das Gebiet des »Altreiches« einzudringen und bis an die Oder vorzurücken. Damit befanden sie sich keine 100 Kilometer mehr von der deutschen Reichshauptstadt entfernt. An einigen Stellen war es ihnen zudem gelungen, auf das Westufer des Flusses zu setzen und erste Brückenköpfe einzurichten. Im Rahmen des Beitrages werden die östlichen Kreise der Region als Kriegs‑ und Evakuierungsschauplatz untersucht. Die deutschen Evakuierungsmaßnahmen waren hier einerseits dadurch gekennzeichnet, dass Verbote und zu spät angeordnete Räumungsbefehle für die Zivilbevölkerung ausgegeben wurden, während Gefangene westwärts verschleppt oder noch vor Ort ermordet wurden, als sich die gegnerische Front den dort befindlichen Haftstätten und NS-Zwangslagern näherte. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Untersuchung, welche Praktiken freigesetzt wurden, als die Kriegsfront auf die »innere« Front zu treffen drohte und sich tatsächlich räumlich mit ihr überlagerte. Zentrale These ist, dass sowohl im Hinblick auf den Einsatz seiner Akteure als auch auf das zum Einsatz kommende (Gewalt‑)Wissen der deutsche Vernichtungskrieg – als Holocaust »vor Ort« und Evakuierungskrieg gegen bestimmte Personengruppen geführt – 1945 in der Mark Brandenburg Fortsetzung gefunden hatte.
»Die Zeit des intelligenten Operierens ist vorbei. Im Osten steht der Feind an unserer Grenze. Hier gibt es nur ein Operieren nach vorwärts oder ein Stehenbleiben« – vernahmen deutsche Offiziere am 25. Juli 1944 – fünf Tage nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler – vom Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei (RFSSuChdtP[1]), Heinrich Himmler.[2] Ein halbes Jahr später stand dieser selbst vor der Aufgabe, einen militärischen Großverband an der Ostfront zu befehligen: »Ich soll mit der Heeresgruppe Weichsel den Russen zum Halten bringen, die Front dann durchschlagen und schließlich zurückdrängen.«[3] So resümierte der 1. Generalstabsoffizier dieser zum 25. Januar 1945 an der Ostfront aufgestellten deutschen Heeresgruppe, Oberst Georg Eismann, die Ausführungen seines neuen Oberbefehlshabers. Zuvor von ihm an der Westfront als Kommandeur der Heeresgruppe Oberrhein eingesetzt, hatte Adolf Hitler dem RFSSuChdtP erneut einen militärischen Auftrag überantwortet: Die im Zuge der sowjetischen Winteroffensive Mitte Januar in der deutschen Verteidigungslinie zwischen den Heeresgruppen Mitte und Nord entstandene, 120 Kilometer breite Lücke sollte geschlossen, die Einschließung Ostpreußens über den sowjetischen Vorstoß nach Danzig und Posen verhindert und so die »nationale Verteidigung« gesichert werden.[4]
Wie wenig diese Vorstellung des von Himmler heraufbeschworenen Kriegseinsatzes der Heeresgruppe Weichsel (HGrW) an der deutsch-sowjetischen Front den Tatsachen der Kriegslage entsprach, dokumentierte Eismann ebenfalls, indem er festhielt, dass »man jedoch den unfreiwilligen Eindruck [hatte], dass ein Blinder über Farben sprach«.[5] Der Heeresgruppe gelang es nicht, die Einheiten der Roten Armee in dem ihr zugewiesenen Frontabschnitt zum Stehen zu bringen. Zum Monatswechsel Januar/Februar 1945 musste sich Himmler mit seinem mobilen Hauptquartier – dem Sonderzug »Steiermark« – bereits selbst hinter die Oder in den nordbrandenburgischen Raum zurückziehen.[6] Im Frontmittelabschnitt hatten sowjetische Truppen das 1939 durch Deutschland annektierte »Wartheland« durchschritten, hielten bis auf einige zu »Festungen« erklärte deutsche Städte nun auch den Osten Brandenburgs besetzt und drangen in Richtung Berlin vor. Im Oderbruch, und damit keine hundert Kilometer mehr von der deutschen Reichshauptstadt entfernt, kam die Rote Armee Anfang Februar allerdings tatsächlich (vorerst) zum Stehen, anstatt weiter in Richtung Berlin vorzustoßen.
Im vorliegenden Beitrag wird erstens die Verlagerung des deutsch-sowjetischen Kriegsschauplatzes in den Wehrkreis (WK) III (Berlin/Brandenburg) behandelt. Diese militärische Zonierung umfasste die drei Wehrersatzbezirke Berlin, Frankfurt (Oder) und Potsdam; die Gebiete der Reichhauptstadt und der preußischen Provinz Mark Brandenburg stellten jeweils auch einen eigenen NS-Gau dar. Ende Januar 1945 hatte sich das Operationsgebiet der Heeresgruppe Weichsel unter anderem zunehmend in den Regierungs‑ und Wehrersatzbezirk Frankfurt, dessen Kreise mehrheitlich östlich der Oder lagen, und damit in den WK III verlagert. Über mehrere Tage war nicht klar, ob die sowjetischen Einheiten im dortigen Oderbruch zum Stehen zu bringen waren. In Anlehnung an das von Susanne Kuß entwickelte Konzept vom Kriegsschauplatz als eigener Raumkonfiguration extremer Gewalt wird der Fokus auf den ostbrandenburgischen Gefechtsraum der deutsch-sowjetischen Kämpfe gelegt und danach gefragt, was diesen zu Monatswechsel Januar/Februar 1945 kennzeichnete.[7]
Zweitens wird das Evakuierungsgeschehen, das im Zuge der sowjetischen Invasion in die Mark Brandenburg einsetzte, untersucht. Zum militärischen Operationsgebiet erklärt, waren Räume, in denen Kampfhandlungen bevorstanden, gemäß den Konzeptionen der Wehrmacht zu evakuieren. Aufgrund des ihnen zugrundeliegenden defensiven Charakters sollten die Maßnahmen, die dem Schutz der als »arische Volksgemeinschaft« konzeptionierten deutschen Mehrheitsgesellschaft galten, offiziell nicht als »Evakuierung«, sondern als »Räumung« bezeichnet werden – in den Dokumenten taucht der Begriff allerdings immer wieder auf.[8] Stattdessen wurde er für die Deportationen jüdischer Menschen mit dem Ziel der Ermordung verwendet, um den Massenmord »im Osten« zu verschleiern.[9] Der Evakuierungsbegriff – gerade aufgrund seiner semantischen Mehrdeutigkeit als geeignet zur Analyse der Gewaltdynamiken 1945 erachtet – findet im Beitrag als Forschungsprogramm Verwendung und wird dabei im Falle von Deportationen stets sprachlich markiert.[10] In Anlehnung an das Kriegsschauplatzkonzept von Susanne Kuß und unter Einbezug von Überlegungen aus Forschungsansätzen, die Evakuierungshandeln zum Gegenstand haben, wird der Evakuierungsschauplatz hier ebenfalls als eigene (Gewalt‑)Raumkonfiguration betrachtet und die ihn kennzeichnenden Faktoren dargelegt. Im Anschluss daran wird das Analysemodell am Beispiel der vor allem östlich der Oder gelegenen Kreise Brandenburgs erprobt und danach gefragt, auf wessen Weisungen und welche Personengruppen dort ab Ende Januar 1945 wie von der Front weg in Bewegung gebracht wurden. Während die Region in den Jahren zuvor einen Aufnahmeraum für die luftkriegsbedrohte Bevölkerung dargestellt hatte, wird für den Evakuierungsschauplatz »(Ost‑)Brandenburg« offengelegt, dass dieser einerseits durch ein Unterbleiben einer flächendeckenden Evakuierung der lokalen wie in diesen Raum zuvor evakuierten Bevölkerung gekennzeichnet war. Andererseits wurden inter‑ wie intraregional umfangreiche Gefangenendeportationen und Massaker verübt.
Ziel des Beitrags ist, sowohl die im Zuge der Gefechtsverlagerungen in die östlichen Teile der Region Brandenburgs greifenden militärischen Logiken der »Gebietsfreimachung« offenzulegen als auch den Dynamiken der in Folge der Ausgabe von Räumungsbefehlen freigesetzten Gewalt auf die Spur zu kommen. Hierfür werden der Kriegs‑ und der Evakuierungsschauplatz Mark Brandenburg im Moment der drohenden gegenseitigen Überlagerung analytisch zueinander in Beziehung gesetzt und die im Rahmen der deutschen Evakuierungsmaßnahmen Ende Januar 1945 freigesetzte Gewalt so im konkreten Kriegs‑, das heißt militärischen Mobilisierungs‑ und Rückzugsgeschehen verortet untersucht. Das gewählte Zeitfenster vom 26. Januar, als erstmalig operative Weisungen für Kreise und Städte im Osten der Mark Brandenburg erteilt wurden, bis zum 4. Februar 1945, als für die sowjetischen Verbände der Befehl erging, an der Oder stehen zu bleiben, erscheint als Analysezeitraum aus zwei Gründen besonders geeignet. Zum Ersten lassen sich die besonderen Kriegsdynamiken an der Ostfront 1945 rekonstruieren. Zum Zweiten kann die Abhängigkeit einer Evakuierungsdurchführung von der Kampfkraft und Geschwindigkeit des vordringenden Kriegsgegners einerseits sowie andererseits von (nicht mehr) vorhandenen Kommunikations‑ und Transportmitteln, (mangelnden) Vorbereitungen, (fehlenden) zeitlichen Spielräumen und der (Nicht‑)Bereitschaft der zuständigen Akteure dargelegt werden.
An der Schnittstelle zwischen der Militärgeschichte und der Holocaust‑ und Genozidforschung sowie auf Basis umfangreichen Quellenmaterials, darunter Militär‑ und Regierungsdokumente oder Audioaufzeichnungen,[11] werden im Beitrag Aspekte der Gewaltdynamiken aufgezeigt, die das Kriegs‑ und Evakuierungsgeschehen im brandenburgischen Hinterland der Ostfront zu Monatswechsel Januar/Februar 1945 kennzeichneten. Über die hier erstmalig skizzierte methodische und akteurszentrierte Vorgehensweise wird es möglich – so die Hypothese meiner Forschung[12] –, zusätzlich zu den situativen Dynamiken auch die spezifischen Zugänge zu Gewaltsituationen zum Gegenstand der historischen Erforschung zu machen. Über die Frage nach den Kriegs‑ und Evakuierungserfahrungen weisungsgebender Akteure – als Skripte der Gewalt oder Gewaltwissen gefasst[13] – lässt sich offenlegen, dass zuvor »im Osten« eingeübte Praktiken des deutschen Vernichtungskrieges ab Ende Januar 1945 in der Region Brandenburg zur Anwendung kamen.[14]
1. Kriegsschauplatz Mark Brandenburg
Am 12. Januar 1945 setzten die sowjetischen Streitkräfte, nun unterstützt durch Großverbände der polnischen Armee, zu ihrer dynamisch vollzogenen Winteroffensive an. Im Mittelabschnitt der Ostfront starteten die vor Warschau massierten Einheiten der I. Belarussischen Front unter Georgij K. Žukovs Kommando am 14. Januar ihren Angriff. Dem Marschall der Sowjetunion war von Stalin, zusätzlich zum Auftrag, in Richtung Berlin vorzustoßen, auch die Führung der gesamten Großoffensive übertragen worden. Mit enormer Geschwindigkeit, die dem deutschen Militär bewusst die Möglichkeit nehmen sollte, eine Verteidigungslinie aufzubauen, sollten Žukovs Truppen sowohl die wenigen ihnen entgegen geworfenen deutschen Verbände als auch einen immer größer werdenden Flüchtlingsstrom westwärts hinter die Oderlinie vertreiben. Sowjetische Vorauseinheiten rückten bis zum Fluss vor. An einigen Stellen im brandenburgischen Oderbruch gelang zudem bereits die Überquerung. Die ostwärts der Oder gelegenen Kreise der Mark Brandenburg waren Kriegsgebiet der Ostfront und damit, insbesondere weil die deutsche Seite nicht bereit war, bei Rückzug hinter die Reichsgrenzen von 1939 zu kapitulieren, Schauplatz einer 1945 – im Unterschied zur Westfront[15] – weiterhin äußerst brutalen Kriegführung geworden.
Analysemodell I: Der Kriegsschauplatz
Über die Frage nach den Einflussfaktoren auf eine Kriegführung hat die Historikerin Susanne Kuß ein Analysemodell erprobt. Im Rahmen der Untersuchung der Gewaltdynamiken der deutschen Kolonialkriege konnte Kuß aufzeigen, »dass die Entstehung extremer Gewalt im Krieg an den Kriegsschauplatz gebunden ist«.[16] Auch wenn sich die Vorstellungen vom künftigen Krieg und somit auch von den hierfür als militärstrategisch und ‑taktisch notwendig erachteten flächendeckenden Evakuierungen im Nationalsozialismus vor allem aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und nicht der Kolonialkriege speisten, lassen sich aus diesem Analysekonzept zentrale Überlegungen auf die (Evakuierungs‑)Kriegführung an der Ostfront 1945 übertragen. So betont Kuß, dass der Begriff des Kriegsschauplatzes in einem engen semantischen Zusammenhang mit dem des Raumes steht.[17] Den Zugriff auf Gefechtsräume über die Analysekategorie »Raum« aufgreifend, wird im vorliegenden Beitrag über die Beschaffenheit von Fronten oder deren Abschnitten als räumliche Grenzen nachgedacht. Bereits Kurt Lewin hatte in seiner Phänomenologie des Schlachtfeldes 1917 über die räumliche Beschaffenheit der Kriegslandschaft reflektiert und diese als Begrenzung in der Landschaft konzipiert.[18] Im Beitrag wird die historisch spezifische Raumkonfiguration »Kriegsschauplatz Ostfront« ebenfalls als räumliche Grenzziehung und hierbei insbesondere als inter‑ oder transnationale Konflikt‑ und Kontaktzone konzipiert,[19] innerhalb der von deutscher Seite temporäre Demarkationsverschiebungen und Territorialgewinne durchgesetzt und – als Vernichtungskrieg geführt – die Ausübung genozidaler Gewalt gegenüber den Kämpfenden und der Zivilbevölkerung angewendet wurden.
Über diesen – vor allem durch die Border Studies und den Spatial Turn inspirierten – Zugang lässt sich neben der Beweglich‑ und Durchlässigkeit von Fronten auch der östlich der Oder gelegene Raum in seiner Spezifik als ehemaliger deutsch-polnischer Grenzraum in den Blick nehmen. Wird Krieg zu führen zudem als kulturelle Praxis gefasst,[20] tritt zutage, dass in interstaatlichen Konflikten – neben den geopolitischen – stets auch soziosymbolische Grenzziehungen verhandelt werden, die es insbesondere im zweiten Teil des Beitrags in den Blick zu nehmen gilt.[21] Zur Konzeptionierung des Kriegsschauplatzes wird somit an Forschungsarbeiten angeschlossen, die Grenzen als »für das Konzept moderner Staatlichkeit konstitutiv« fassen, »während sie zugleich historisch spezifisch, umstritten und veränderbar sind« und somit Transformationsprozessen unterliegen.[22] Über diesen Zugang lässt sich die »soziale Praxis räumlicher Differenzherstellung«[23] im Kriege analysieren: Der Kampf um Frontverläufe und Territorien in den Kriegen des 20. Jahrhunderts wird als soziokultureller Prozess eines gewaltvollen »Borderings«[24] untersucht, in dem symbolische Ordnungen, staatliche Institutionen wie das Militär und Netzwerke zusammenwirken. Zudem schließen »territoriale« und »relationale« Dimensionen von Grenzen einander nicht aus, »sondern bilden vielmehr« – darauf hat die Historikerin Claudia Bruns im Anschluss an den Geografen Anssi Paasi bereits verwiesen – »eine produktive Spannung, die das Politische als räumlichen Prozess konstituiert.«[25] Wie kaum ein anderer Bordering-Prozess ist die Kriegführung mit Praktiken des »Otherings«[26] verbunden.[27]
Kriegsschauplätze lassen sich somit als historisch spezifische Raum‑ beziehungsweise Grenzkonfigurationen fassen, die sich aus unterschiedlichen Faktoren konstituieren. Zu diesen zählen laut Susanne Kuß neben den Streitkräften und einheimischen Akteuren unter anderem auch die geophysischen Gegebenheiten wie Topografie und Klima oder die kulturgeografischen Gegebenheiten wie die Siedlungsstruktur, Bevölkerungsdichte, Infrastruktur und Ökonomie. Sowohl für die angreifende als auch für die verteidigende Akteursgruppe gilt zudem, dass »[d]eren Einstellungen und Verhaltensweisen, Wahrnehmungen und Erfahrungen« ebenfalls durch bestimmte Faktoren wie Herkunft und Sozialisation, die Zugehörigkeit zu einer speziellen Handlungseinheit und weltanschauliche Entwürfe geprägt sind. Das Handeln der Kämpfenden ist überdies durch äußere Vorgaben wie politische Ziele, konkrete »Zeiterwartungen der Politik und die Finanzierung des Krieges« oder die Legitimierung des Krieges in der öffentlichen Meinung bestimmt.[28]
Neben den aufgeführten Voraussetzungen für eine Kriegführung, die Kuß als politische, soziale, mentale und institutionelle fasst, ist ein Kriegsgeschehen immer auch durch Verzögerungen, Hindernisse, Fehler und Missverständnisse, die in ihrer Summe das Kampfgeschehen von deren Vorbereitungen abweichen lassen können, gekennzeichnet. In der Militärtheorie findet dieser Umstand unter der Bezeichnung »Friktion«[29] Beachtung. Aus dem Zusammenspiel der aufgezeigten Faktoren entwickelt sich eine eigene, unvorhersehbare Kriegsdynamik. Wie am Beispiel des Eindringens sowjetischer Einheiten in den brandenburgischen Raum und ihr Vordringen bis an die Oder im nächsten Abschnitt aufgezeigt werden kann, entsteht eine Kriegführung somit immer »aus dem Zusammentreffen der von außen kommenden Akteure mit den vorgefundenen Bedingungen, welche den Ort und die einheimischen Akteure gleichermaßen einschließen.« Über das im Folgenden untersuchte Kampfgeschehen im Mittelabschnitt der Ostfront lässt sich zudem die Feststellung, dass die Kriegführung »von Kriegsschauplatz zu Kriegsschauplatz variieren [kann]«, für die deutsch-sowjetische Front 1945 exemplarisch offenlegen.[30]
Die Verlagerung des deutsch-sowjetischen Kampfes in den brandenburgischen Raum
Vom 26. bis zum 28. Januar 1945 rückte die Rote Armee auf breiter Front an die Grenze zur Mark Brandenburg vor und war dabei, auch im Mittelabschnitt der deutsch-sowjetischen Front das Gebiet des »Altreiches«[31] zu betreten. Die im Nationalsozialismus als »Gau« gefasste brandenburgische Region stellte zusammen mit der von ihr ummantelten Reichshauptstadt das politische und militärische Zentrum des Deutschen Reiches und Preußens dar. Militärisch wurde der Großraum als Wehrkreis III (Berlin/Brandenburg) gefasst. Die Region galt als bedeutendes Rüstungszentrum. Bis 1939 als »Gau Kurmark« bezeichnet, stellte der östlichste Teil Brandenburgs – auch als Kulturlandschaft der brandenburgischen Neumark gefasst – gemeinsam mit der Grenzmark Posen-Westpreußen Grenzland zu Polen dar und verfügte über spezifische Wehrtopografien. Ab Oktober 1939 grenzte die brandenburgische Region unmittelbar an die als »Reichsgau Wartheland« (WK XXI) dem Deutschen Reich einverleibten polnischen Gebiete an. Im Zuge der sowjetischen Winteroffensive hatte die I. Belarussische Front am 14. Januar 1945 zu ihrer »Berlin-Operation« angesetzt und steuerte auf den »Warthegau« zu.[32] Dieser war militärisch völlig unzureichend auf eine mögliche Invasion vorbreitet und ausgestattet worden.
Als Reaktion auf den erfolgreichen Vormarsch der sowjetischen Truppen ordnete der Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Heinz Guderian, am 16. Januar an, in allen 20 – zu diesem Zeitpunkt noch nicht von Invasionen der Alliierten betroffenen – Wehrkreisen je ein Volkssturmbataillon aufzustellen. Die hastig mobilgemachten sowie militärisch völlig unzureichend ausgebildeten und ausgestatteten Volkssturmmänner waren innerhalb einer Woche in die Hauptstadt des »Warthelandes«, Posen (Poznań), in Marsch zu setzen.[33] Am 22. Januar 1945 erfolgte im angrenzenden WK III erstmalig die Ausgabe des Alarmstichwortes für brandenburgische Militärstandorte: mittels »Gneisenau« wurden Angehörige des Ersatzheeres mobilisiert und ebenfalls zur Verteidigung Posens in Marsch gesetzt.[34] Das »Wartheland« war »Frontgau« und deren Gauhauptstadt von Hitler am 20. Januar zur »Festung« erklärt worden, die personell verstärkt und um jeden Preis gehalten werden sollte. Die Mobilmachung kam jedoch zu spät. Die in Marsch gesetzten Verbände erreichten die Stadt vielfach nicht mehr rechtzeitig: »Transportzüge mit einigen dieser Einheiten fuhren direkt in vorstoßende sowjetische Verbände ein. Die anderen [Volkssturm‑]Bataillone wurden seit dem 25. Januar vorher angehalten, ausgeladen und im Rahmen der von Himmler befehligten Heeresgruppe Weichsel eingesetzt« – unter anderem im Raum Tirschtiegel (Trzciel) und Frankfurt (Oder).[35] Drei weitere der in Brandenburg neu gebildeten Alarmeinheiten wurden zur Verteidigung der ebenfalls zur »Festung« ernannten schlesischen Stadt Glogau (Głogów) im Südabschnitt der Ostfront in Marsch gesetzt.[36]
Für die Heeresgruppe Weichsel bestand die militärische Aufgabe darin, die Linie Glogau–Elbing (in Westpreußen, Elbląg) zu halten und die Rote Armee samt der ihr unterstellten polnischen Militärverbände zum Stehen zu bringen. Mobile Kommandos des Befehlshabers der sogenannten Sperr‑ und Auffanglinie, General der Waffen-SS Carl Oberg, hatten dafür Sorge zu tragen, dass sich deutsche Kombattanten nicht weiter zurückzogen, diese aufzugreifen und den Sammelstellen zum erneuten Fronteinsatz zu überstellen. Oberg richtete seinen Befehlsstand hierfür in Stargard (Pommern, Szczeciński) ein. Er wurde im südlichen Teil der Auffanglinie von dem regionskundigen Cottbusser Generalleutnant der Waffen-SS Heinz Reinefarth unterstützt.[37] Der sowjetisch-polnische Vormarsch im Mittelabschnitt der Ostfront ging indes weiter; die Linie hielt nicht. Um nicht aufgerieben zu werden, zogen sich die nach vorn geworfenen Wehrmachts‑, Waffen-SS‑, Volkssturm‑ und Alarmverbände stattdessen zunehmend westwärts in den brandenburgischen Raum zurück. Einheiten der I. Belarussischen Front drangen in den Operationsraum der Heeresgruppe Weichsel ein und bis an die deutschen Wehranlagen der Festungsfront Oder-Warthe-Bogen – einer sich über etwa 120 Kilometer erstreckenden, stark befestigten Verteidigungslinie, die im Volksmund »Ostwall« genannt wurde – vor. Im ehemaligen brandenburgischen Grenzraum zu Polen sollten nun mit der Oderstellung und dem bei Tirschtiegel befindlichen Riegel vor allem die bereits in den 1930er Jahren errichteten Bunkeranlagen und Panzerwehren den Vormarsch der sowjetischen Zentralfront zum Stehen bringen. Die Möglichkeit eines sowjetischen Angriffs auf die östliche Grenze des »Altreichs« ins Auge fassend, waren diese Wehranlagen seit 1944 erneut intensiv ausgebaut worden.[38] Für das Eintreten des Verteidigungsfalls war noch eine personelle Verstärkung der Abwehrstellung mit 25 Volkssturmbataillonen konzipiert worden. Diese konnten vom Wehrkreiskommando jedoch aufgrund des zügigen Vordringens der I. Belarussischen Front ebenfalls nicht mehr herangezogen werden.[39] Stattdessen hatten hier neben dem V. SS-Freiwilligen-Gebirgskorps vor allem die im WK III mobilgemachten Alarmeinheiten und eine sich in diesen Raum zurückgezogene Kampfgruppe die Befestigungsanlagen zu verteidigen.[40]
Die Befehlsführung im Raum Tirschtiegel hatte Himmler General der Waffen-SS Friedrich-Wilhelm Krüger übertragen. Krüger unterstand seit August 1944 das V. SS-Freiwilligen-Gebirgskorps, das im Januar 1945 in die brandenburgische Neumark verlegt worden war.[41] Seinen Befehlsstand richtete Krüger im ostbrandenburgischen Meseritz (Międzyrzecz) ein.[42] Bereits am 28. Januar 1945 brachte sich die 8. Gardearmee der I. Belarussischen Front östlich des Bunkersystems im Raum Tirschtiegel in Stellung.[43] Beim Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar (RVK) der Mark Brandenburg, Emil Stürtz, erging daraufhin die Anordnung, die zivile Räumung einer 15 Kilometer breiten Zone westlich des Tirschtiegel-Riegels zu veranlassen. Erstmalig waren mit den östlichen Kreisen der Mark Brandenburg Teile des Wehrkreises III von Himmler zum militärischen Operationsgebiet erklärt worden.[44] Am 29. Januar 1945 drangen die Stoßeinheiten der I. Belarussischen Front in diesen Raum ein.[45] Nach drei Tagen war der endgültige Durchbruch durch die dortige Abwehrstellung gelungen.[46] Während die sowjetischen Einheiten hier an einigen Stellen auf erbitterte Gegenwehr trafen, flohen Alarmeinheiten und Volkssturmangehörige – auch zusammen mit Einheiten der Wehrmacht – andernorts und zogen sich an die Oder beispielsweise nach Küstrin zurück.[47] Die Oderstadt war am 26. Januar von Hitler zur »Festung« erklärt worden und stellte damit einen der Sammelpunkte für sich zurückziehende deutsche Soldaten und Einheiten dar.[48]
Waren die Stellungsanlagen, wenn auch nicht ausreichend, noch personell verstärkt worden, trafen die vordringenden sowjetischen und polnischen Verbände in den östlichen Ortschaften Brandenburgs, die sich ab etwa 100 Kilometer westlich von Posen jenseits des »Ostwalls« befanden, auf ihrem Vormarsch in Richtung Oder vielerorts hingegen auf überhaupt keine Gegenwehr mehr. Die wenigen dort eingesetzten deutschen Alarm‑ und Volkssturmeinheiten flüchteten, wie das Beispiel der preußischen Garnisonstadt Züllichau verdeutlicht, westwärts hinter die Oder zurück: Als sowjetische Vorauseinheiten dort eintrafen, waren die Stellungen der östlich von Frankfurt (Oder) liegenden Stadt unbemannt. Während die Verteidigungsanlagen in seinem Bezirk noch von einigen SA‑, Polizei‑, Volkssturm‑ und HJ-Einheiten besetzt blieben, beobachtete der
Frankfurter Gendarmeriekommandant, wie sich die deutschen Verbände aus Züllichau westwärts auf die Oder zubewegten.[49]
Aufgrund der personellen wie materiellen Überlegenheit und nicht zuletzt auch der für sie klimatisch äußerst günstigen Bedingungen konnten die Vorauseinheiten der I. Belarussischen Front zügig auf die mittlere Oder zusteuern: Schneeverwehungen hatten die Panzerwehren der Abwehranlagen ebenso passierbar werden lassen, wie zugefrorene Seen, Wiesen und Moorlandschaften den schnellen Vormarsch der in Bezug auf harte Wintertemperaturen erfahrenen Roten Armee und ihr militärisches Gerät begünstigten. Bereits Ende Januar 1945 galt mit der deutschen Oderlinie die letzte natürliche Grenze vor der deutschen Reichshauptstadt als unmittelbar bedroht. Am 29. Januar erging auf der deutschen Seite der Befehl, zwischen der Oderlinie und Berlin ein Sperrsystem zu errichten.[50] Bereits an den beiden darauffolgenden Tagen gelang es sowjetischen Stoßtrupps, nun auch in der brandenburgischen Oderniederung über den Fluss zu setzen.[51]
Unter dem Kommando des stellvertretenden Kommandeurs der 89. Gardeschützenarmee, Polkovnik (Oberst) Chariton F. Esipenko, überquerten sowjetische Vorauseinheiten am Abend des 30. Januar 1945 zum ersten Mal den unter Eis liegenden Fluss. Die Rote Armee kam damit in die Lage, nördlich von Küstrin einen Brückenkopf einzurichten. Am darauffolgenden Morgen drangen Angehörige von General-Polkovnik (Generaloberst) Nikolaj Ėrastovič Berzarins 5. Stoßarmee in das brandenburgische Dorf Kienitz ein. Damit war es sowjetischen Kombattanten auch am 31. Januar gelungen, über die zugefrorene Oder zu gelangen. Am selben Tag sollte auch die 44. Gardepanzerarmee unter Polkovnik Iosif Gussakovski südlich von Küstrin über den Fluss setzen und am westlichen Ufer einen weiteren Brückenkopf einrichten.[52] Aus dem deutschen »Freundufer« wurde im Oderbruch zunehmend »Feindufer«. Über waghalsige Aktionen und zum Preis höchstgradiger körperlicher Erschöpfung ihrer Soldaten war es den sowjetischen Vorauseinheiten im Oderbruch an mehreren Stellen gelungen, die letzte natürliche Barriere auf dem Weg nach Berlin zu nehmen. Außer einige meist nur mit Gewehren und Panzerfäusten ausgestattete Alarm‑, SA‑, Polizei‑, Volkssturm‑ und HJ-Einheiten trafen sie dabei im Osten der Mark Brandenburg kaum auf deutsche Truppen. Hier hatten sie Ende Januar vor allem den aus der Luft entgegengeworfenen deutschen Angriffen zu trotzen – eine zur Verstärkung eingesetzte sowjetische Flak-Division traf erst Tage später ein. Tauwetter hatte eingesetzt. Schweres militärisches Gerät und die zuvor rasant vormarschierenden Einheiten Žukovs blieben zunehmend im Schlamm stecken.[53]
Die deutsche Führung brauchte ebenfalls Tage, um vor allem sich selbst und die zur Abwehr bestimmten militärischen Verbände zu sammeln. In Reaktion auf das erfolgreiche Übersetzen sowie die folgende Einrichtung erster Brückenköpfe durch die Rote Armee und obwohl sich in deren Nähe zahlreiche Dörfer befanden, hatte Himmler auf der Besprechung des Generalstabes der Heeresgruppe Weichsel am Mittag des 31. Januar noch den Vorschlag unterbreitet, die Eisdecke im Oderbruch durch Bombenabwurf zu sprengen.[54] Getrieben von der Sorge, dass der erfolgreichen Invasion sowjetischer Bodentruppen in das brandenburgische Gebiet westlich der Oder – und damit auf das politische Zentrum des Reiches zusteuernd – zudem ein Absetzen gegnerischer Einheiten aus der Luft folgen würde, erfolgte noch am selben Tag die Ausgabe des »A-Falls« für den Wehrkreis III. Über die Ausgabe des Alarmstichwortes »Scharnhorst« wurden nun alle im Großraum Berlin-Brandenburg lokalisierten SS-Angehörigen in Alarmbereitschaft versetzt: Mobile SS/Polizei-Kommandos hatten den Oder-Raum im Hinblick auf Luftlandetruppen zu »sichern«,[55] verfügbare SS/Polizei-Angehörige wurden für den Fronteinsatz mobilgemacht.[56] Mit dieser Alarmausgabe unterstanden nun alle nicht an der Front eingesetzten SS/Polizei-Angehörigen im WK III dem Oberbefehl des Höheren SS‑ und Polizeiführers (HSSPF) Spree, General der Waffen-SS August Heißmeyer.[57]
Am 1. Februar gelang es Verbänden der I. Belarussischen Front noch, Küstrin einzuschließen. Zeitgleich ging mit dem sogenannten Tirschtiegel-Riegel die Defensivstellung an der Ostgrenze Brandenburgs an diesem Tag endgültig verloren. Obwohl die deutsche Luftwaffe dort Angriffe flog, war es sowjetischen Voraustrupps daraufhin am 2. Februar noch gelungen, in den Frankfurter Raum vorzudringen.[58] Dabei hatten sie Sonnenburg (Neumark, Słońsk) passiert und – wie im nächsten Abschnitt aufzuzeigen sein wird – im dortigen Zuchthaus den Tatort eines nur wenige Tage zuvor begangenen Massenmords entdeckt.[59] Im Oderbruch setzten nun auch zu Boden geführte deutsche Konterattacken ein. In der Nacht zum 3. Februar gelang es drei sowjetischen Divisionen vorerst ein letztes Mal, verlustfrei auf das westliche Oderufer überzusetzen und wichtige Verkehrswege wie die Reichsstraße 1 und die Eisenbahnstraße der Königlichen Preußischen Ostbahn nun auch im Abschnitt Berlin-Küstrin zu unterbrechen. »Der Gegner hat uns mit seinem Widerstand völlig mürbe gemacht [und, FJ] wütet fürchterlich«, resümierte Wladimir Gelfand tags darauf erschöpft in seinem Tagebuch.[60] Gelfand befehligte einen Granatwerferzug der 301. Schützendivision in Berzarins 5. Stoßarmee und steckte im Oderbruch fest. »Bis Berlin sind es noch 70 Kilometer und bis zum Ende des Krieges [...] noch weit, wie es scheint.«[61] Am 4. Februar erging für die I. Belarussische Front der Befehl Stalins, an der Oder stehen zu bleiben, Küstrin einzunehmen und zur Sicherung der offenen Nordflanke überzugehen.[62] Dort brachten sich Truppenteile der Heeresgruppe Weichsel bereits in Stellung. Parallel dazu waren im Wehrkreises III seit Tagen Räumungen im Gange: Die östlichen Kreise der Mark Brandenburg waren Schauplatz der deutschen Evakuierungskriegführung geworden.
2. Evakuierungsschauplatz Mark Brandenburg
Seit Beginn der sowjetischen Winteroffensive war das Bild auf brandenburgischen Landstraßen und Bahnhöfen einerseits zunehmend von den ostwärts vollzogenen Durchmärschen der Alarm‑ und Volkssturmeinheiten sowie den Nachschubkolonnen von Wehrmacht und SS/Polizei gekennzeichnet – zum Monatswechsel Januar/Februar 1945 stellte der Raum Frankfurt (Oder)–Küstrin einen der zentralen deutschen Aufmarschräume dar. Zeitgleich erfolgte der (weitgehend) kampflose Rückzug deutscher Verbände und Soldaten westwärts in dieses Gebiet. Hinzu kamen SS‑ und Polizeiwachmannschaften, die Gefangene in Fußmärschen von der Front weg in als sicher erachtete Räume deportierten und die ebenfalls westwärts flüchtende ostdeutsche Bevölkerung. Die rechtzeitige Evakuierung ziviler Einrichtungen und Personen aus den kriegsgefährdeten ostdeutschen Gebieten war, das verdeutlichte zuvor schon die Situation in Ost‑ und Westpreußen,[63] trotz relativ genauer Meldungen des militärischen Geheimdienstes zum bevorstehenden sowjetischen Großangriff[64] jedoch kaum Bestandteil militärischer Planungen gewesen.
Die deutschen Evakuierungskonzeptionen sahen Anfang 1945 vielmehr vor, dass ein Gebiet erst zum militärischen Operationsgebiet zu erklären und dementsprechend zu räumen war, wenn sich die gegnerische Front auf circa 20 bis 30 Kilometer angenähert hatte. Ein Grund hierfür war, dass – nach der am 20. Juli 1944 gemachten Erfahrung – aus Sicht der Partei‑ und der SS/Polizei-Führung die Räume, in denen die Wehrmacht befehligte, über diese Regelung Begrenzung finden sollten.[65] Das galt insbesondere für das möglicherweise »feindbedrohte« Reichsinnere und hatte lebensbedrohende Situationen für die in diesen Räumen befindlichen Menschen zur Folge. Ein weiterer Grund war, dass Evakuierungen ebenfalls Teil der ideologischen Kriegführung waren, die zunächst die Möglichkeit der Aufgabe von Reichsgebieten kategorisch ausschloss, um – im Unterschied zu den Gefangen, die von der Front weg mehrheitlich auf Fußmärsche getrieben wurden – dann letztlich die zivile Bevölkerung so lange wie möglich an Ort und Stelle zu halten und in der Konsequenz wie ein lebendiges Schutzschild zu verwenden. Wie im folgenden Untersuchungsabschnitt im Anschluss an die Einführung in das Analysemodell »Evakuierungsschauplatz« aufgezeigt wird, hat es sich auch in der Mark Brandenburg in jedem Fall nicht um ein Überraschungsmoment oder eine verspätete Reaktion gehandelt, sondern um eine systematische Verweigerungs‑ oder Verzögerungspolitik.
Analysemodell II: Der Evakuierungsschauplatz
Bei kriegsbedingten Evakuierungen handelt es sich um einen militärischen beziehungsweise militärisch angeordneten Bevölkerungstransfer, der, als Schutz‑ und Sicherungsmaßnahmen konzipiert, aus militärischen Kampfzonen herausführen soll. Die staatliche Maßnahme ist sowohl durch einen Fürsorge‑ als auch durch einen Zwangscharakter gekennzeichnet. Letzterer ergibt sich sowohl aus der behördlichen Anordnung und deren Durchsetzung als auch aus der unmittelbaren Kriegs‑ und damit Bedrohungssituation. Kriegsbedingte Evakuierungen stellen einen von verschiedenen Faktoren abhängigen und damit dynamischen Prozess dar.[66] Zu den Faktoren, die auf deren Durchführung einwirken können, gehören neben der Geschwindigkeit heranrückender oder der Kampfkraft belagernder Truppen des militärischen Gegners unter anderem auch die geografischen und klimatischen Gegebenheiten, die sozialen Interaktionen, die Vorstellungen und Lageeinschätzungen der für die Evakuierung zuständigen Handelnden, vorhandene oder fehlende Transport‑ und Kommunikationsmittel, der Zeitpunkt des Aufbruchs oder die Wege der Transporte – zeitgenössisch auch als »Trecks« bezeichnet –, die Erfahrungen der Transportführenden sowie die Bereitschaft der zu Evakuierenden, sich abtransportieren zu lassen.
Für die Evakuierungsmaßnahmen der beiden Weltkriege haben Johannes Grossmann und Fabian Lemmes mustergültige Abläufe, die eine Planungs‑ und Vorbereitungs‑, eine Durchführungs‑, eine Unterbringungs‑ und eine Rückkehrphase enthalten, bestimmen können.[67] Wie im Rahmen der Beiträge des vorliegenden Heftes zum deutschen Evakuierungskrieg aufgezeigt wird, kann ein Krieg auch durch unterschiedliche Evakuierungsperioden gekennzeichnet sein, die in Abhängigkeit zum Kriegsverlauf stehen.[68] Evakuierungen können sowohl im Rahmen von Vorbereitungen militärischer Bereitstellungs‑ oder Aufmarschräume als auch im Moment von militärischen Rückzügen angeordnet und vollzogen werden.[69] Sie lassen sich durch bestimmte Zielvorgaben charakterisieren. Großmann und Lemmes zeigen auf, dass Evakuierungen bei unterschiedlicher Priorisierung zugleich humanitäre, militärische, politische oder ökonomische Ziele verfolgen können.[70]
Im Hinblick auf kriegsbegleitende Evakuierungen lagen im Nationalsozialismus unterschiedliche Evakuierungskonzeptionen vor. Als Schutz‑ und Sicherungsmaßnahmen gefasst, kamen diese 1939/40 erstmalig an der deutsch-französischen Grenze zum Tragen.[71] Für die als »arische Volksgemeinschaft« konzeptionierte deutsche Mehrheitsgesellschaft wurde der Evakuierungsbegriff aufgrund seines defensiven Charakters offiziell vermieden. Stattdessen wurden die Termini »Räumung« und »Freimachung« etabliert.[72] In Reaktion auf den Luftkrieg setzten mit der »(Erweiterten) Kinderlandverschickung« reichsweit greifende Evakuierungsmaßnahmen für Kinder und deren Mütter ein.[73] Fand der Evakuierungsbegriff hingegen Verwendung, handelte es sich vor allem um Bevölkerungsteile oder Personengruppen, die als »gefährlich« und »politisch unzuverlässig« angesehen und staatlich verfolgt wurden. Dies betraf vor allem die jüdische Bevölkerung. »Entjudungen«, »Evakuierungen in den Osten« und »Liquidierungen« stellten Maßnahmen der auf gesellschaftliche Homogenisierung abzielenden Politik dar, deren Begrifflichkeiten dabei stets auf Metaphern der räumlichen Entleerung oder Verflüssigung beziehungsweise Auflösung rekurrierten und die im deutschen Mordprogramm des Holocausts mündeten.[74] »Evakuierung« wurde als Euphemismus des brutalen Deportationssystems der SS/Polizei verwendet, auch um zu verschleiern, dass jüdische Menschen sowie Angehörige der Roma und Sinti zu ihrer Ermordung verschleppt wurden. Im Zuge der Umsetzung der »Endlösung der Judenfrage« und der ab 1943 zunehmenden deutschen Rückzüge aus besetzten Gebieten wurden die dort etablierten Gettos, Zwangslager[75] und Gefängnisse »geräumt« und »liquidiert«. Wurden »Räumungen« und »Liquidierungen« angeordnet, bedeutete dies, dass die dort konzentrierten Menschen, wenn nicht noch vor Ort ermordet, in die deutschen Vernichtungszentren oder zur Zwangsarbeit weiterdeportiert wurden.
Im Zuge der Ausgabe der sogenannten ARLZ-Maßnahmen wurde die deutsche Evakuierungspolitik in den besetzten Gebieten 1943/44 erneut radikalisiert. Das Akronym stand für »Auflockerung«, »Räumung«, »Lähmung« und »Zerstörung« und bezeichnete das das militärische Hinterland kennzeichnende deutsche Evakuierungs‑, Verschleppungs‑ und flächendeckende Zerstörungsprogramm.[76] Im Rücken der militärischen Maßnahmen setzten etappenweise und umfangreiche Gefangenen(rück)deportationen in Richtung Reichsinneres ein. Ab Oktober 1944 verlagerte sich das Kriegsgeschehen auf das Reichsgebiet. Nun setzten auch dort Evakuierungs‑ und Verteidigungsmaßnahmen ein.[77] Ab 1945 wurden inter‑ und intraregionale Deportationen von Insassinnen und Insassen innerhalb des »Altreiches« befindlicher und nun »frontbedrohter« Gefängnisse und Zwangslager sowie noch vor Ort durchgeführte Selektionen und Mordaktionen vollzogen, wenn im Zuge der deutschen Rückzüge Räume für Kampfhandlungen vorzubereiten waren.[78] Festzuhalten und im Folgenden zu vertiefen bleibt, dass zu Monatswechsel Januar/Februar 1945 bestimmte Personenkreise weiterhin »evakuiert« wurden – der Massenmord also weiterhin vollzogen wurde – und Gebiete, die zum militärischen Operationsgebiet erklärt wurden, »freizumachen« beziehungsweise zu »räumen« waren.
Evakuierungsmaßnahmen in der Mark Brandenburg, Januar/Februar 1945
Am 28. Januar 1945 war beim Leiter des NS-Gaus Mark Brandenburg, Emil Stürtz, das erste Mal eine Räumungsanordnung für die östlichsten Teile der preußischen Provinz eingegangen. Im Zuge der Verlagerung der deutsch-sowjetischen Gefechtshandlungen in den Wehrkreis III hatte der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel den Befehl erteilt, ein begrenztes Gebiet 15 Kilometer westlich des Tirschtiegel-Riegels zu evakuieren: Frauen und Kinder, unter ihnen nicht wenige, die erst im Jahr zuvor luftkriegsbedingt in diesen Raum evakuiert worden waren, hatten die Gegend zu verlassen. Auch die hier vielfach in der Landwirtschaft zur Zwangsarbeit eingesetzten polnischen Männer sowie deren Familien waren »nach Westen abzuführen«.[79] Die einheimische männliche Bevölkerung sollte hingegen vor Ort, zivile, Partei‑ und Polizeidienststellen besetzt bleiben und sich im Ernstfall den kämpfenden Einheiten anschließen.[80] Die Polizei hatte zudem die Aufgabe, die westwärts ziehenden Trecks zu kontrollieren und dabei insbesondere auch dafür Sorge zu tragen, dass die Hauptstraßen dem Militär vorbehalten blieben. Westwärts ziehende Flüchtlings‑ wie Gefangenenkolonnen geräumter Haftstätten und Zwangslager waren auf Nebenwege umzuleiten und die Gegenden auf der Suche nach geflohenen Gefangenen oder Zwangsarbeiterinnen und ‑arbeitern zu patrouillieren.[81]
1945 wurden Evakuierungen, und das betraf die Räumungen von Dienststellen, von als kriegswichtig erachteten Betrieben und Gefängnissen ebenso wie die Evakuierung der Zivilbevölkerung, vom Gauleiter und nicht mehr durch die Wehrkreiskommandos angeordnet. Eine reichseinheitliche Evakuierungspolitik war nicht mehr vorgesehen.[82] Seit Juli 1944 lagen hierfür spezifische Weisungen für die Reichsverteidigungskommissare im Operationsgebiet vor.[83] Trotz der nun massenhaft im NS-Gau Mark Brandenburg eintreffenden Flüchtlinge, die den Menschen gerade im Osten der preußischen Provinz deutlich vor Augen führten, was ihnen unmittelbar bevorstand, waren vorsorgende Evakuierungsmaßnahmen von Gauleiter/RVK Stürtz verboten worden.[84] Stürtz folgte damit den Weisungen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW),[85] das so eine frühzeitige und unkoordinierte Fluchtbewegung der ostdeutschen Bevölkerung zu verhindern suchte. Und auch als erste sowjetische Vorauseinheiten in den Wehrkreis eindrangen, blockierte der Gauleiter Evakuierungen.
Obwohl sowjetische Panzer bereits in der Nähe waren und Ortschaften des Kreises unter feindlichem Artilleriebeschuss lagen, lehnte Stürtz die Anfragen des Leiters im ehemaligen Grenzkreis Züllichau-Schwiebus diesbezüglich zwei Mal ab. Zur Bekräftigung des Räumungsverbots drohte er dem Kreisleiter am 27. Januar, ihn bei Missachtung vor ein Kriegsgericht stellen zu lassen. Am darauffolgenden Tag argumentierte Stürtz erneut gegen die Evakuierung der dortigen Bevölkerung mit der Begründung, dass sich bereits Alarmeinheiten auf dem Weg befänden. Selbst aktiv werdend, stellten die noch verbliebenen, vor allem weiblichen und älteren Anwohner des Kreises fest, dass sie keine Karten mehr für Bahnfahrten in westliche Gebiete kaufen konnten. Die Deutsche Reichsbahn hatte bereits zum 23. Januar 1945 den öffentlichen D‑ und Eilzugverkehr zugunsten der Truppen‑ und Munitionstransporte an die Ostfront eingestellt.[86] Leerfahrten in westlicher Richtung sollten vor allem kriegswichtigem oder aus anderen Gründen zu evakuierendem Gut vorbehalten bleiben. Diejenigen, die sich in Züllichau-Schwiebus daraufhin auf die Straße begaben, wurden von der (Militär‑)Polizei angehalten und zur Rückkehr aufgefordert. Die Freigabe zur Evakuierung durch den Gauleiter/RVK erging für den Kreis am 29. Januar und damit zu spät: Mindestens ein Flüchtlingstreck wurde daraufhin von den in hohem Tempo hinter ihnen ebenfalls westwärts drängenden Panzern der Roten Armee überrollt.[87]
Am 29. Januar 1945 waren sowjetische Panzer und Infanterie auch in den brandenburgischen Grenzlandkreis Landsberg (Warthe) nordöstlich von Küstrin vorgerückt und lieferten sich dort bei Stolzenberg mit Angehörigen deutscher Alarmeinheiten, der Polizei und dem Volkssturm heftige Kämpfe. Noch während der Landsberger Ortsgruppenleiter per Drahtfunk verkündete, dass die Stadt nicht evakuiert werden müsse, ergriffen Teile der dortigen Stadtverwaltung und auch Mitarbeiter der Parteidienststellen die Flucht. Die lokale wie die sich aufgrund der luftkriegsbedingten Evakuierung aus deutschen Großstädten und Fluchten aus Ostpreußen in diesem Kreis befindliche Bevölkerung – circa 50 000 Menschen – hatte hingegen vor Ort zu bleiben, bis der Kreisleiter die Räumung anordnete. Wer sich daraufhin nicht schnell genug absetzen konnte, befand sich in einer Falle: Am frühen Nachmittag sprengten Pioniereinheiten der Wehrmacht ohne Vorwarnung die beiden zentralen Warthebrücken Landsbergs. Dies war Teil der angeordneten »ARLZ-Maßnahmen«. Neben den Verkehrswegen waren auch weitere Infrastruktureinrichtungen – wie Trinkwasser‑, Gas‑ und Stromleitungen – von mutwilligen Zerstörungen durch deutsche Pioniereinheiten betroffen. Schätzungsweise 50 Prozent der anwesenden Bevölkerung sahen sich durch das Vorgehen des deutschen Militärs und die systematische Verschleierungspolitik der Parteifunktionäre festgesetzt, als noch am Abend gegen 22 Uhr die sowjetischen Streitkräfte einrückten.[88]
Und auch in Küstrin fragte sich die Bevölkerung, warum die regionalen wie lokalen Regierungsstellen weder rechtzeitig über den bevorstehenden Einmarsch der Roten Armee informiert, noch die nötigen Maßnahmen zur Abreise getroffen hatte.[89] Als Stürtz für diese Oderstadt am 4. Februar endlich den Räumungsbefehl erteilte, gab der dortige Festungskommandant diesen nicht weiter. Am darauffolgenden Tag hatten sowjetische Einheiten Küstrin komplett eingekesselt und hielten nun auch den letzten, tags zuvor noch möglichen Weg aus der Stadt besetzt.[90] Im nördlich am Westufer der Oder liegenden Schwedt wurde zur gleichen Zeit ein Exempel statuiert: Weil der Bürgermeister und Volkssturm-Kommandant des östlich der Oder gelegenen Königsbergs (Neumark, Chojna), Kurt Flöter, »die Stadt ohne Räumungsbefehl verlassen« und sich nach Schwedt abgesetzt hatte, wurde er vor ein militärisches Standgericht gestellt und das Todesurteil anschließend öffentlich vollstreckt.[91]
Zusätzlich zum Einmarsch der sowjetischen Verbände hatte sich der Luftkrieg über den brandenburgischen Raum noch einmal intensiviert. Die Westalliierten trugen diesen bereits geraume Zeit über dem Berliner Umland aus. Anfang 1945 hatten sie ihren Einsatz verstärkt und griffen nun auch gezielt Transportzüge, ‑kolonnen, Rüstungsbetriebe und Bahnhöfe an. Nicht zuletzt die Detonationen der sich dort für die deutschen Fronten in Verladung befindlichen Kampfmittel sorgten für umfangreiche Zerstörungen brandenburgischer Städte. An der Oder – und damit über »eigenem« Territorium – flog auch die deutsche Luftwaffe zu Monatswechsel Januar/Februar 1945 Angriffe, um den Vormarsch der sowjetischen Bodentruppen abzuwehren. Zusätzlich zur zunehmenden Gefahr von oben, der dieser folgenden kriegsbedingten Obdachlosigkeit und Unterbringung in Sammelunterkünften hatte die brandenburgische Bevölkerung nun auch hinzunehmen, dass Stürtz bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt Ende Januar 1945 die Reduzierung des Stromverbrauchs anordnete.[92] Heizmaterial war in Brandenburg bereits seit Monaten Mangelware.[93] Lebensmittel gab es nur noch per Marke. Rationen wurden zusehends reduziert.[94] All diese Maßnahmen trafen die Bevölkerung hart. Das Ende Januar 1945 vielerorts ergangene Verbot, die frontbedrohten ostbrandenburgischen Kreise zu verlassen, bedeutete hingegen den Tod für Hunderte, die so gezwungen wurden, während der militärischen Kämpfe zu flüchten, und dabei ins unmittelbare Gefechtsgeschehen gerieten.
Als das östliche Gebiet der Mark Brandenburg zum militärischen Operationsgebiet der Heeresgruppe Weichsel erklärt wurde, war die Situation in Brandenburg somit dahingehend gekennzeichnet, dass der Gauleiter/RVK auf der einen Seite für Verbote beziehungsweise zu spät angeordnete Evakuierungen der ostbrandenburgischen Bevölkerung verantwortlich war. Auf der anderen Seite ordnete Stürtz die Räumung von als »feindbedroht« erachteten Haftanstalten an und griff damit in die Belange der deutschen Justiz ein. Im Falle des Zuchthauses in Sonnenburg (Neumark) erteilte er am Abend des 30. Januar 1945 – und damit zu einem Zeitpunkt, als der »Führer« in Berlin seine letzte offizielle Rede halten sollte – den Räumungsbefehl.[95] Während die Bevölkerung entweder vor Ort festgehalten, zurückgeschickt oder zu spät evakuiert worden war, wurden als »frontbedroht« erachtete Gefängnisse und Zwangslager, die in Odernähe lokalisiert waren und damit Ende Januar im »rückwärtigen Gebiet« der HGrW lagen, hingegen »geräumt«.
Östlich der Oder setzte bereits am 20. Januar im Kreis Meseritz die »Räumung« des sogenannten Arbeitserziehungslagers (AEL) in Brätz (Brójce) ein. Die Gefangenen wurden von den Wachmannschaften in das weiter westlich gelegene AEL »Oderblick« in Schwetig (Świecko) getrieben. Beide Zwangslager waren der Gestapostelle Frankfurt (Oder) zugeordnet und dienten ihr 1944/45 auch als erweiterte Polizeigefängnisse. Als Ende Januar 1945 für das in Schwetig verortete AEL ebenfalls der Räumungsbefehl einging, befanden sich dort zu dieser Zeit circa 1600 männliche und weibliche Gefangene – die Hälfte von ihnen war erst am Vortrag aus Brätz eingetroffen. Die als »marschfähig« erachteten Gefangenen wurden daraufhin zu Fuß in das Konzentrationslager Sachsenhausen (weiter‑)getrieben, wo sie eine Nacht verblieben und nach Buchenwald weiterdeportiert wurden. Als »deutsch« selektierte Insassen waren zuvor in Frankfurt (Oder) aus der Kolonne genommen und zu Schanzarbeiten zwangseingesetzt worden. Circa 70 Kranke wurden zurückgelassen und in der Krankenbaracke des Lagers von Polizeiangehörigen erschossen. Anschließend wurde die Baracke in Brand gesetzt.[96]
In Reaktion auf den sowjetischen Vormarsch ergingen auch innerhalb des Konzentrationslagerkomplexes Sachsenhausen konkrete Räumungsanweisungen. Am 23. Januar setzten »Rückführungen« von Frauen und Männern ein, die östlich der Oder im Raum Küstrin von der SS zur Zwangsarbeit eingesetzt worden waren.[97] Ein Großteil von ihnen wurde hierbei in andere Sachsenhausener Außenlager oder das Oranienburger Hauptlager überstellt.[98] Für den Konzentrationslagerkomplex waren bereits zu Anfang und Mitte des Monats Befehle ergangen, Standorträumungen vorzubereiten. Diese betrafen sowohl das Hauptlager in Oranienburg als auch den Außenlagerkomplex in Lieberose-Jamelitz. Letzterer befand sich westlich unweit der Oder. Mehrheitlich jüdische Gefangene wurden hier auf der Baustelle des Truppenübungsplatzes der Waffen-SS »Kurmark« vom SS-Führungshauptamt (FHA) zwangseingesetzt. Am 31. Januar erging der Befehl, diesen Außenlagerkomplex zu »räumen«. Die als »marschfähig« erachteten Insassen wurden anschließend über einen fast zwei Wochen andauernden Todesmarsch in das Oranienburger Hauptlager getrieben. Kranke und zuvor als »nicht-marschfähig« selektierte Gefangene wurden einerseits per Zug abtransportiert. Anderseits fand in Lieberose eine Massenerschießung durch ein SS-Kommando statt, der 1342 mehrheitlich jüdische Männer zum Opfer fielen.[99] Der westlich der Oder gelegene Lagerstandort war auf Weisung des SS-FHA umfunktioniert worden und galt fortan als zentrale Sammelstelle für Angehörige der Waffen-SS, die an der deutschen Oderlinie zum Einsatz gebracht werden sollten.[100]
Als die östlichsten Kreise Brandenburgs zum militärischen Operationsgebiet erklärt wurden, ergingen auch bei der Leitung des Zuchthauses Sonnenburg erste Weisungen zur bevorstehenden Räumung.[101] Am Abend des 30. Januar 1945 erteilte Stürtz für die Justizvollzugsanstalt den Räumungsbefehl.[102] Dieser umfasste jedoch nur noch den Abtransport von circa 150 der noch etwa 1000 im Zuchthaus befindlichen Gefangenen und löste vor allem die Ermordung der Mehrzahl der Insassen aus.[103] Über 800 Gefangene wurden im Gefängnishof von einem mobilen Polizeikommando erschossen.[104]
Während der Abtransport sowohl aus Sonnenburg als auch aus den brandenburgischen AEL eine verhältnismäßig kleine Anzahl an Gefangenen betraf und die Mordaktionen vermutlich in beiden Fällen von gefängnis‑ und lagerexternen mobilen Einsatzkommandos durchgeführt wurden,[105] sah sich die Kommandantur des Konzentrationslagerkomplexes Sachsenhausen Ende Januar vor die Problematik der großen Anzahl an Gefangenen gestellt. Als die Feldkommandostelle des RFSS Ende Januar »Scharnhorst«‑ und der HSSPF Spree kurze Zeit später Räumungsalarm gaben, waren für diesen Lagerkomplex der SS circa 66 000 Gefangene registriert.[106] Die Mehrzahl von ihnen war im Raum Berlin/Brandenburg zur Zwangsarbeit eingesetzt. Mit dem Vormarsch sowjetischer Stoßeinheiten an die Oder und deren Übertritt am 30. und 31. Januar war aus Sicht der SS-Führung im Wehrkreis III der Alarmfall eingetreten. Der Aufruf versetzte alle im Wehrkreis III stationierten Waffen-SS‑ und Polizeiangehörigen in Alarmbereitschaft. Aus den frei verfügbaren Angehörigen der SS-Standorte waren umgehend Alarmeinheiten zu bilden und Richtung Front in Marsch zu setzen.[107] Für die Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück bedeutete die Alarmstufe die Verhängung einer Lagersperre.[108] Außerdem unterstanden deren Wachmannschaften nun nicht mehr der Amtsgruppe D im SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) – bis 1943 Inspektion der Konzentrationslager –, sondern dem HSSPF Spree, Heißmeyer.[109]
Aufgrund der für die SS-Führung undurchsichtigen Frontlage an der Oder war der Befehl zur Vorbereitung der Räumung (Alarmstufe II) für den Oranienburger Konzentrationslagerkomplex erteilt worden. Sich an den Konzeptionen der Wehrmacht orientierend, die mit vorher festgelegten Codewörtern drei Räumungsstufen für ihre Einrichtungen im Falle von Frontnähe vorsahen,[110] lag auch im SS-Komplex Sachsenhausen ein Räumungsprozedere vor, das ein stufenweises Vorgehen beinhaltete.[111] Die Insassinnen und Insassen »feindbedrohter« Sachsenhausener Außenkommandos wurden bereits in das Oranienburger Hauptlager zurückdeportiert. Am 30. und 31. Januar setzten auf Befehl Heißmeyers nun auch dort Vorbereitungen zur Standortaufgabe ein. Als die Oderlinie zu halten schien, wurden diese am Morgen des 2. Februar zurückgenommen. Die Räumungsanordnung hatte allerdings auch im SS-Komplex Sachsenhausen einen Exekutionsbefehl ausgelöst,[112] dementsprechend anhand einer dem Lagerkommandanten Anton Kaindl vorliegenden Liste mehr als 200 Gefangene hingerichtet werden sollten. In der Nacht vom 1. zum 2. Februar wurden daraufhin 144 von ihnen aus ihren Baracken oder Zellen des Gefängnistraktes geholt und von einem SS-Kommando im Hinrichtungstrakt des Oranienburger Hauptlagers erschossen.[113] Am 2. Februar gab Kaindl unter dem Stichwort »Sonnenburg« einen aktualisierten Räumungsbefehl für den Fall der erneuten Alarmausgabe aus, der im April 1945 zum Tragen kommen sollte.[114]
Die HSSPF hatten ab Herbst 1944 zudem die Funktion der Höheren Kommandeure der Kriegsgefangenen in den jeweiligen Wehrkreisen übernommen.[115] Nordöstlich von Küstrin in Alt-Drewitz befand sich das Kriegsgefangenenlager Stalag III C, das am 30. Januar geräumt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war es noch mit schätzungsweise 2000 Kriegsgefangenen der US-Bodentruppen, die im September 1944 an der Westfront aufgerieben worden waren, und 2000 weiteren Kriegsgefangenen belegt. Die Kriegsgefangenen wurden ebenfalls westwärts in Richtung Küstrin und dort über die gefrorene Oder getrieben. Den Kolonnen schloss sich dabei auch einheimische Zivilbevölkerung an.[116] Während die Mehrzahl der Gefangenen daraufhin über einen tagelangen Fußmarsch in das Stalag III A nach Luckenwalde verschleppt wurde, stieß eine Gefangenenkolonne auf einen sowjetischen Stoßtrupp. Nicht wissend, dass es sich bei der Kolonne um Kriegsgefangene handelte, eröffneten die sowjetischen Panzer das Feuer. Daraufhin gab es Tote und Verletzte. Einige mutige Gefangene liefen dem Stoßtrupp trotzdem entgegen, um die Einheit über den Räumungstransport zu informieren. Die Kriegsgefangenen wurden befreit und auf das Gelände des Stalags zurückgeschickt, wo sie auf folgende Nachschub‑ und Versorgungseinheiten zu warten hatten. Über den Verbleib der Wachmänner finden sich widersprüchliche Angaben, die besagen, dass die Wachen entweder geflohen oder zusammengetrieben und noch vor Ort erschossen wurden.[117]
Aufgrund der durch die regionalen und lokalen Instanzen zu spät erteilten oder nicht weitergegebenen Räumungsbefehle traf im Osten der Mark Brandenburg zu Monatswechsel Januar/Februar 1945 vielerorts der Kriegs‑ mit dem Evakuierungsschauplatz zusammen. Wie der Fall des Kriegsgefangenentransportes aus Alt-Drewitz verdeutlicht, überlagerten sich beide Schauplätze mitunter und es kam zu Gefechten. Aufgrund des Verbots, die Gefangenen‑ als auch Flüchtlingstrecks rechtzeitig auf den Weg zu bringen, hatten Heißmeyer und Stürtz sowohl den Tod von Gefangenen als auch der Bevölkerung wissentlich in Kauf genommen. Aufgrund des Verbots, Züge, Kolonnen aber auch Ortschaften mit einem roten Kreuz oder weißen Fahnen kenntlich zu machen, auch um sie vor alliierten Luftangriffen zu schützen,[118] erreichten und überrollten die Stoßtrupps der sowjetischen Bodentruppen die Transporte oder griffen sie an. Sowohl die Vorgehensweise innerhalb des Kriegsschauplatzes als auch die innerhalb des Evakuierungsschauplatzes Mark Brandenburg – den die Frontverlagerung ausgelöst hatte – war durch eine brutale Vorgehensweise gekennzeichnet. Zurückführen lässt sich dies, wie nun abschließend aufgezeigt werden soll, auf weitere Akteure, die neben dem HSSPF Spree und Gauleiter/RVK im Operationsgebiet des Wehrkreis III über weitreichende Kompetenzen verfügten.
»Abwehrkampf« an der Oder: Die Mark Brandenburg als Evakuierungskriegsschauplatz der SS/Polizei? Ein Ausblick
Zu Monatswechsel Januar/Februar 1945 standen sowjetische Einheiten an mehreren Stellen nur noch circa 80 Kilometer von der deutschen Reichshauptstadt entfernt. Für die deutsche Seite war es eng geworden: Über mehrere Tage war nicht klar, ob die Rote Armee im Oderbruch zum Stehen zu bringen war oder weiter vordringen würde. Der westlich der Oder gelegene brandenburgische Raum bildete einen letzten Puffer zwischen den sich westwärts vorkämpfenden sowjetischen Vorauseinheiten und den politischen Zentralen in Berlin, welche die Stoßtrupps – würde die I. Belarussische Front ihr Tempo beibehalten können – in wenigen Tagen zu erreichen drohten. Auf die Wechselwirkungen zwischen Gewalt und räumlicher Enge im Krieg hat Marian Füssel bereits am Beispiel der Schlachten des Siebenjährigen Krieges verwiesen.[119] Für die deutsch-sowjetischen Kämpfe lässt sich herausstellen, dass in dem Moment, als sich diese zum Monatswechsel Januar/Februar 1945 an die letzte natürliche Grenze vor Berlin verlagerten, im Zuge der Gebietsaufgaben eine an mehreren Orten durch die SS und Polizei synchron vollzogene Tötungsgewalt freigesetzt wurde. In keiner anderen Region im Reichsinneren sind im Moment der gegnerischen Invasion – im Hinblick auf die Zahl der Opfer – so umfangreiche Gefangenenmorde verübt worden.[120]
Im Zeitraum zwischen dem 30. Januar und dem 4. Februar wurden die folgenden Massaker verübt: Im Zuchthaus Sonnenburg wurden über 800 Gefangene erschossen (30/31.1.). Im AEL in Schwetig wurden circa 70 kranke Lagerinsassinnen und ‑insassen in einer Baracke niedergeschossen und die Baracke anschließend in Brand gesetzt (30./31.1). Im Erschießungstrakt des Konzentrationslagers Sachsenhausen nördlich von Berlin wurden 144 Gefangene ermordet (1./2.2.). In Lieberose fielen über 1342 mehrheitlich jüdische Männer einer Erschießungsaktion zum Opfer (2.–4.2.) – hier wurden die Erschossenen in Massengräbern verscharrt. Schätzungsweise 700 weitere waren in offenen Güterwaggons abtransportiert worden. Sie wurden vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft in Sachsenhausen ermordet. Während es sich bei den Opfern aus Lieberose vor allem um jüdische Gefangene handelte, die zuvor als »marschunfähig« selektiert worden waren, betraf die Mordwelle in den anderen Haftstätten vor allem Angehörige der Alliierten und hierbei insbesondere sowjetische Gefangene sowie Personen, die sich dem Einsatz im deutschen Militär verweigert oder entzogen hatten und des Widerstandes. Ungeachtet ihrer körperlichen Situation – viele waren von zum Teil jahrelanger Gefängnis‑ und/oder Zwangslagerhaft schwer gezeichnet –, wurden sie als »gefährlich« beziehungsweise mögliche »fünfte Kolonne«[121] befunden. Derartigen Logiken des spezifisch nationalsozialistischen Sicherheitsregimes[122] unterworfen, ging das selbsternannte »Staatsschutzkorps«[123] der SS/Polizei 1945 dazu über, im Zuge der Evakuierungen von militärischen Operationsgebieten diese Gefängnis‑ und Lagerinsassen zu ermorden.
Hinsichtlich der Frage, warum sich in der Mark Brandenburg zu Monatswechsel Januar/Februar 1945 derart gewaltvolles Handeln Bahn brach, wird der Fokus abschließend auf die weisungsgebenden Akteure gelegt und so auf einen – im Hinblick auf die Gewaltdynamiken im Hinterland des HGrW-Operationsgebietes »Mark Brandenburg« – als zentral erachteten Aspekt verwiesen, welcher der weiteren Erforschung bedarf. Die deutsche Reichshauptstadt und ihr Umland waren – historisch gewachsen – administrativ, ökonomisch und militärisch eng aufeinander bezogen. Dies verdeutlicht einerseits die militärische Verwaltungs‑ und Mobilisierungszonierung des Wehrkreises III (Berlin/Brandenburg). Andererseits mischte sich auch der Berliner Gauleiter, Joseph Goebbels, in Fragen der Verteidigung und Räumung des KZ-Komplexes Sachsenhausen ein, dessen Kommandantur zwar im brandenburgischen Oranienburg ihren Amtssitz hatte, aber im gesamten Großraum Insassinnen und Insassen zum Zwangsarbeitseinsatz brachte.[124] Die Region, welche die deutsche Reichshauptstadt ummantelte, und insbesondere das Gebiet zwischen Oder und Berlin – am 29. Januar 1945 zum Sperrgebiet erklärt – stellte den letzten noch nicht »feindbesetzten« Raum dar, der dem NS-Regime in östlicher Richtung noch verblieben war. Mit den sowjetischen und polnischen Truppen stand das Militär des Feindes, den es aus Sicht des NS-Regimes zu vernichten galt und der im vierten Kriegsjahr nach wie vor unbesiegt war, nun auf »eigenem« Territorium. Von der Oder aus nahm er mit Berlin das politische Zentrum des NS-Regimes ins Visier. Das Regime reagierte, indem es die deutsche Vernichtungsgewalt nun nach »innen« richtete. In eigenen Vorstellungen des »Dolchstoßes 1918« verharrend, wonach im Ersten Weltkrieg Sozialdemokraten und andere demokratische Politiker, insbesondere aber »bolschewistische Juden« der Front in den Rücken gefallen seien,[125] sollten nun so einerseits den an der Front kämpfenden Einheiten der »Rücken freigehalten« und innere Unruhen unterdrückt werden. Andererseits sollten unter Einsatz brutalster Mittel auch die »eigenen« Soldaten an der Front gehalten und Loyalität gegenüber dem NS-Regime erzwungen werden. An den Gefechtsschauplätzen der Heeresgruppe Weichsel sowie in deren militärischem Hinterland kamen dafür vielerorts vor allem Akteure der SS/Polizei zum »Einsatz«.
Gegen die Bedenken Guderians hatte Hitler nicht einem erfahrenen Militärstrategen die Organisation des »nationalen Widerstandes an der Ostfront« erteilt, sondern seinem Terrorexperten.[126] Indem er auf loyale Generäle aus den Reihen der Waffen-SS oder Territorialbefehlshaber der SS/Polizei aus den vormals okkupierten Gebieten zur Besetzung von Befehlshaberposten auf der mittleren, ihm unterstellten Ebene zurückgriff, gab Himmler das Vorgehen Hitlers nach unten hin weiter. Den Raum Tirschtiegel hatte der designierte Heeresgruppenführer dem Obergruppenführer und General der SS/Polizei Friedrich-Wilhelm Krüger zugewiesen. An der Sperr‑ und Auffanglinie agierten die Obergruppenführer und Generäle der SS/Polizei Carl Oberg und Heinz Reinefarth. Letzterer wurde am 2. Februar von Hitler zum Kommandanten der zur »Festung« erhobenen Oderstadt Küstrin ernannt. Reinefarth war es auch, der am 4. Februar den Räumungsbefehl, den Stürtz für die brandenburgische Bevölkerung der Stadt erteilt hatte, nicht weitergab. Und auch in anderen Räumen des Operationsgebietes der Heeresgruppe kamen ehemalige HSSPF zum Einsatz, die nun die deutschen Soldaten an der Front halten sollten, wie beispielsweise General der Waffen-SS Erich von dem Bach-Zelewski im Raum Schneidemühl (Pommern, Piła). Um ab Ende Januar den im Raum Schwedt befindlichen deutschen Oderbrückenkopf zu verteidigen, beorderte Himmler zudem die unter dem Kommando des SS-Obersturmbannführers Otto Skorzeny stehenden SS-Jagdverbände in diesen brandenburgischen Raum.[127] Allen diesen Befehlshabern war gemein, dass sie dem RFSS bereits über Jahre hinweg direkt unterstellt und tief in die deutschen Kriegsverbrechen verstrickt waren.
Zuvor als HSSPF Ost in Krakau (ab Oktober 1939) und »Staatssekretär für das Sicherheitswesen im Generalgouvernement« (ab Mai 1942) tätig, stellte Krüger zeitweilig den mächtigsten Mann in den nicht annektierten polnischen Gebieten dar und war dort für den Mord an mehreren zehntausenden Juden und Jüdinnen verantwortlich.[128] Oberg hatte zuvor die Stellen des SSPF im Distrikt Radom (1941–1942) und HSSPF Frankreich (1942–1944) bekleidet. In letzterer Funktion zeichnete er unter anderem für die Verfolgung und Deportationen der jüdischen Bevölkerung Frankreichs und die Zerstörung der Altstadt von Marseille verantwortlich.[129] Reinefarth hatte als HSSPF Warthe 1944 mit seiner Kampfgruppe die brutale Niederschlagung des Warschauer Aufstandes zu verantworten.[130] Als HSSPF Russland-Mitte und Chef der sogenannten Bandenbekämpfung stellte auch von dem Bach-Zelewski einen der Akteure des deutschen Vernichtungskrieges in der Sowjetunion dar.[131] Skorzeny kämpfte zuvor innerhalb der Waffen-SS-Divisionen »Das Reich« und »Totenkopf« in Frankreich und Jugoslawien; in der Sowjetunion wurde er 1941 verwundet.[132] Er war es auch, der am 4. Februar über den Königsberger Bürgermeister Flöter richtete und ihn in Schwedt an einem Baum erhängen ließ.
Militärisches Ausweichen wurde von diesen Männern als »Drückebergerei«, »Feigheit« und »Wehrkraftzersetzung« gefasst, gegen das mit Standgerichten vorgegangen wurde. Bei Missachtung der deutschen Haltebefehle sollten insbesondere an Offizieren durch öffentliches Erhängen Exempel statuiert werden. Wie die Verurteilung und Ermordung Flöters verdeutlicht, griff dieses Vorgehen auch auf die Heimatfront über beziehungsweise verschwammen die Trennlinien zwischen dem Kampf an der Kriegs‑ und »inneren« Front zunehmend: Flöter hatte das Bürgermeisteramt in Königsberg als bekennender Nationalsozialist seit 1933 inne. Weil er sich 1945 eigenmächtig ohne Räumungsbefehl abgesetzt und ein ihm unterstelltes Volkssturmkommando zurückgelassen hatte, wurde er von einem Standgericht, dem Skorzeny vorsaß, zum Tode verurteilt. Der Kampf an der Kriegsfront verschmolz somit, das verdeutlicht Skorzenys Agieren in Schwedt, mit dem Gewaltgeschehen an der Heimatfront.
Wurden Regionen zum militärischen Operationsgebiet erklärt, griffen auch im »Altreich« zunehmend sicherheitspolizeiliche Logiken, die von Kriegsbeginn an das militärische Hinterland aller Kriegsschauplätze gekennzeichnet hatten. Dies bedeutete im Wehrkreis III einerseits die Ausweitung der Kompetenzen des HSSPF Spree und der Gauleiter/RVK. Andererseits agierten nun auch hier ein Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) mit Sitz in Berlin sowie zwei regionale Kommandeure der Sicherheitspolizei (KdS). Sowohl der BdS, Hans Fischer, als auch die beiden KdS in Frankfurt (Oder), Heinz Richter, und Potsdam, Otto Bradfisch, verfügten über mobile Einsatzkommandos.[133] Ihnen oblagen im Wesentlichen Aufgaben, die im Nationalsozialismus als »Sicherung« galten: das Patrouillieren »rückwärtiger« Räume, um flüchtige Kriegsgefangene oder Lagerinsassen, abgeschossene Piloten und Fallschirmjäger der Alliierten oder Zwangsarbeiterinnen und ‑arbeiter, die sich nicht an ihren Arbeitsorten befanden, aufzugreifen und dabei vielfach auch noch an Ort und Stelle zu ermorden. Fischer konnte hierfür auf hauptamtliches Personal der BdS-Dienststelle Berlin, der KdS-Stellen Frankfurt (Oder) und Potsdam, der Stapo‑ und Kripostellen Berlin sowie ehrenamtliche Mitarbeiter des SD-Leitabschnitts Berlin zurückgreifen.[134] Richter unterstand das mobile Einsatzkommando, das unter dem Kommando des Kriminalrats und SS-Hauptsturmführers Wilhelm Nickel in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 das Blutbad in Sonnenburg angerichtet hatte.[135]
Im Zuge der Verlagerung der deutsch-sowjetischen Kämpfe in diesen Raum entwickelten sich Teile der Mark Brandenburg zu »Holocaust Landscapes«[136] beziehungsweise zu Tatorten des Holocaust »vor Ort«[137] und weiterer NS-Massenverbrechen, die nun durch Deportationen in Form von Todesmärschen, Massenerschießungen und Spurenverwischung gekennzeichnet waren. Außerhalb der beiden Konzentrationslagerkomplexe Lieberose und Sachsenhausen kamen dabei mobile Polizei-Kommandos zum Einsatz, deren Befehlshaber über weitreichende Erfahrungen verfügten und tief in die in Polen oder der Sowjetunion begangenen Verbrechen verstrickt waren: Fischer hatte 1939 die Einsatzgruppe III im Raum Łódź kommandiert.[138] Bradfisch war zuvor als Führer des Einsatzkommando (EK) 8 (der Einsatzgruppe B) sowie Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS (KdS) in Litzmannstadt (Łódź) tätig gewesen.[139] Richter hatte im Januar 1942 dessen Nachfolge als Führer des EK 8 (in Mogilev) angetreten.[140] Innerhalb der Konzentrationslagerkomplexe in Sachsenhausen und Lieberose mordete hingegen lagerinternes Personal, in Letzterem zusammen mit SS-Standortpersonal des sich noch in der Errichtung befindlichen Truppenübungsplatzes der Waffen-SS »Kurmark«.[141] Die Mordaktionen standen an allen Orten im Zusammenhang mit ausgegebenen Räumungsbefehlen oder der Umnutzung des Standortes zu militärischen Zwecken. Im Hinblick auf die (Weiter‑)Verwendung erfahrener Gewaltakteure sowie deren zum Einsatz kommendes Gewaltwissen hatte der deutsche Vernichtungskrieg mit den diesen kennzeichnenden Praktiken der Massenerschießung und dem In-Brand-Setzen der Baracken in der Mark Brandenburg seine Fortsetzung gefunden. Als Evakuierungskrieg wurde er hier gegen bestimmte Personengruppen (weiter‑)geführt.