|
||
20.06.2005 · 19:15 Uhr |
||
![]() |
||
Die Rote Fahne weht auf dem Reichstag 1945 in Berlin (Bild: AP) | ||
"Lasse mir eine Dauerwelle machen" |
||
Wladimir Gelfand: "Deutschland-Tagebuch 1945 - 1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten" |
||
Von Suzanne Plog-Bontemps |
||
|
||
Anfang
Mai war es
genau 60 Jahre her, seit der Zweite Weltkrieg in Europa mit der
Kapitulation
Deutschlands geendet hatte. Die Sowjetunion, deren Bevölkerung
unvorstellbares
Leid hatte durchmachen müssen, war eine der Siegernationen. Wladimir
Gelfand
erlebte den deutschen Zusammenbruch als junger Offizier unweit von
Berlin und
gehörte dann zum ersten Kontingent von Besatzungssoldaten in
der damaligen
sowjetisch besetzten Zone. Über
diese Zeit
machte er sich fleißig Privatnotizen, die aber erst jetzt
nach seinem Tod
gefunden und veröffentlicht worden sind. Deutschland
Tagebuch 1945-1946 Aufzeichnungen eines Rotarmisten. Susanne
Ploug-Bontemps hat
sie gelesen und lässt Gelfand zunächst selbst zu Wort
kommen. «Jetzt
bin ich in dem Örtchen Rüdersdorf,
nicht weit von unserem Lager.
Lasse
mir, rein Interesse halber, eine Dauerwelle machen, die sechs
Monate halten soll. Zwei Stunden werde ich rundum bearbeitet. Eine
junge,
hübsche Deutsche kümmert sich besonders emsig um
meine Haare.
Mit
der sollte ich mich anfreunden und
mir an ihrer Seite die Zeit vertreiben»,
- vertraut der 22-jährige Rotarmist Wladimir
Gelfand am 12. Juli 1945, zwei Monate nach Kriegsende, seinem Tagebuch
an. Als
Stabsoffizier
erlebt er die ersten Friedenswochen in verschiedenen Einsätzen
in und um
Berlin. Der Albtraum der letzten Kriegsmonate, der Sturm auf Berlin,
der
erbitterte Häuserkampf, Kampfhandlungen, in denen zehntausende
sowjetische
Soldaten gefallen sind, scheinen den jungen, selbstverliebten
Unterleutnant
Gelfand nicht mehr zu drücken. Neugierig und gelassen, naiv
und nur auf sich
selbst konzentriert ist Gelfands Blick auf das fremde Land und seine
Bewohner. Trümmer,
Ruinen,
marodierende Rotarmisten, verängstigte, flüchtende
Frauen, Kinder, Alte, diese
Bilder und Eindrücke des Schreckens nimmt Wladimir Gelfand
nicht wahr,
zumindest notiert hat er sie nicht. Ebenso fehlen Analysen und
Kommentare, wie
sie sonst bei Chronisten üblich sind. In Gelfands
Deutschland-Tagebuch gibt es
keine Gesänge über Heldentaten, kein Trommelwirbel
ist zu hören, kein
Siegestaummel zu verspüren. Der
Untergang
Nazi-Deutschlands ist für ihn gerecht, die Deutschen haben
sich die Folgen des
Krieges selbst zuzuschreiben. Aber der Leutnant empfindet keine
Rachegelüste,
schon gar nicht schwelgt er in Vergeltungsfantasien. Nur einmal ist der
Rotarmist dem Gerücht von einem deutschen Frauenbataillon und
angeblich
gepfählten Soldatinnen aufgesessen. Seine
Sicht auf
das besiegte Deutschland und die Deutschen überrascht. Denn
der ukrainische
Jude Wladimir Gelfand weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, dass
viele Angehörige
seines Vaters in deutschen Gaswagen umgebracht worden sind. Gelfand ist
Kommunist, Parteimitglied. Seit
Mai 1942 hat
er für sein Vaterland gekämpft, bis auf die
allerletzten Monate immer an
vorderster Front. Und die ganze Zeit hat Wladimir Gelfand ein Tagebuch
geführt,
auch als er im Januar 1945 an die Front abkommandiert wird. Seine
literarische
Hinterlassenschaft füllt mehrere Koffer. Ein
Teil dieser
Aufzeichnungen Gelfands sind jetzt als »Deutschland-Tagebuch
1945 bis 1946« in
einer gut dokumentierten Ausgabe erschienen. Gelfands
Sohn
Vitali, der 1995 nach Deutschland ausgewandert ist, hat die Sammlung
mitgebracht. Gelfands Aufzeichnungen beginnen im Januar 1945. Von
Anfang an
wird deutlich, dass Wladimir Gelfand, der in seiner Freizeit Gedichte
schreibt
und von einer Karriere als Schriftsteller träumt, immer
schlechter mit dem
Soldatenleben zurechtkommt. Er berichtet von Feindseligkeit und
Missgunst in
der Kompanie, von betrunkenen, prügelnden Vorgesetzten, von
sinnlosem
Vandalismus. „Niemand
verbietet uns, den Deutschen das
zu nehmen und zu zerstören, was sie zuvor bei uns geraubt
haben.
Ich
bin überaus zufrieden. Nur der
sinnlose Radau von Hauptmann Schickin und insbesondere Karpienko
gefällt mir
nicht. Gestern zum Beispiel hat Ripkin eine Büste von Schiller
zerschlagen und
hätte wohl auch Goethe vernichtet, wenn ich ihn, diesen Narren
nicht aus den
Händen gerissen, mit Lappen umwickelt und weggepackt
hätte.
Genies
können nicht mit Barbaren
gleichgesetzt werden, und ihr Andenken zu zerstören, ist
für einen
zivilisierten Menschen eine große Sünde und eine
Schande“. 30.
Januar 1945. Die
verschiedenen
Tätigkeiten als Besatzungsoffizier in Berlin füllen
den jungen, neugierigen
Ukrainer nicht aus. Ständig
und
bewusst verstößt er gegen Verordnungen und Verbote.
In diesem Teil der
Aufzeichnungen spricht nicht der Militär, sondern der Zivilist
Gelfand, der
sich im einstigen Feindesland aufmacht, eine neue Welt und dabei sich
selbst zu
entdecken. Am
9. August 1945
notiert er »Es ist uns verboten,
mit den
Deutschen zu sprechen, bei ihnen zu übernachten, einzukaufen.
Das kann doch
nicht sein.
Wir
sind Menschen, können nicht in einem Käfig sitzen.
Was ich will,
Freiheit, die Freiheit zu leben, zu denken, zu arbeiten, das Leben zu
genießen.« Und
wie er seinem
Tagebuch anvertraut, gelingt es dem hübschen Rotarmisten mit
dem lockigen Haar,
sein Leben zu genießen. Fast schon arglos und ohne sich
rückzuversichern, wirft
er sich in diese für ihn neue Welt. Er
lernt Deutsch,
liest viel, besucht Theater, geht ins Kino. Der im Stalinismus
aufgewachsene
Sowjetbürger vergleicht Neues mit Altbekanntem, Deutsche und
Russen. Gerade
diese kleinen Beobachtungen gehören zu den besten Passagen von
Gelfands
Aufzeichnungen. Schon
in den
ersten Tagen erwirbt er ein Fahrrad und eine Kamera und zieht dann los,
um die
neue Welt um ihn herum zu dokumentieren, vor allem aber, um sich selbst
darin
abzulichten. Gelfand mit Sonnenbrille, Gelfand mit Zylinder, Gelfand im
modischen Zweireiher mit Hut, Gelfand in der Kleinstadt Kaput, Gelfand
vor dem
Brandenburger Tor, vor dem Reichstag, am Gendarmenmarkt, Gelfand in
Wolgast, in
Stettin. Landschaften, Dörfer, Städte, gierig saugt
er alles in sich hinein. Der fleißige Chronist, der ohne weiteres bekennt, "ich bin wirklich ein selbstverliebter Typ, er ist jetzt vor allem mit seiner Wirkung auf andere beschäftigt, ist besorgt um sein Aussehen und seine Kleidung". Er
will beim weiblichen Geschlecht
Eindruck machen, will lieben und geliebt werden. Zahlreiche deutsche
Mädchen
erliegen dem Charme des sowjetischen Offiziers, der sie mit Fotos und
Bonbons
verwöhnt". Gelfands
Aufzeichnungen waren sicher nie für eine
Veröffentlichung bestimmt, liefern
aber gerade deshalb unverstellte Eindrücke aus Deutschland und
von seinen
Bewohnern in den ersten Monaten nach Kriegsende. Aus russischer Sicht
beschrieben in der Haltung eines aktiv teilnehmenden und mit seiner
deutschen
Umgebung kommunizierenden Zeitgenossen hat man dies bisher so noch
nicht
nachlesen können. Susanne
Ploug-Bontemps besprach Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch
1945 bis 1946. |
||
|
||
Suzanne Plog-Bontemps besprach: Wladimir
Gelfand: "Deutschland-Tagebuch 1945 - 1946. Aufzeichnungen eines
Rotarmisten" |
||
Transkribiert von TurboScribe.ai. | ||
|
||
![]() ![]() |