Konkret Verlag
KONKRET 6/2005
Kurt Paetzold
Watching the krauts
Emigranten und internationale Beobachter schildern ihre
Eindrücke aus Nachkriegsdeutschland
Unter den Büchern, die anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung veröffentlicht wurden, befinden sich einige, die über das Datum hinausgehen. Vier von ihnen sollen hier hervorgehoben werden. Sie stammen von Menschen, die es bei Kriegsende oder kurz danach nach Deutschland verschlug oder von denen, die darüber berichteten. Einige kamen, um die Wehrmacht zur Kapitulation zu zwingen, andere erst nach deren Niederlage – sie sollten für die US-Regierung schildern, was sie vorfanden.
Die Berichtenden kannten Deutschland meist schon aus Vorkriegszeiten: Sie hatten entweder dort gelebt oder sich im Reich länger aufgehalten. Nur einer von ihnen, ein sowjetischer Offizier, kämpfte sich in ein ihm vollkommen fremdes Land. Er führte Tagebuch, und sein Sohn fand es im Nachlass des Vaters.
Wer eine der Autobiografien oder Lebenserinnerungen von Klaus Mann, Hans Habe, Stefan Heym, Walter Hasenclever oder Hanus Burger gelesen hat, ist auf die Ritchie Boys gestoßen, jene Soldaten der US-Armee, die eine spezielle Ausbildung erhielten, um an und hinter der Front ihren Teil zur psychologischen Kriegsführung beizutragen. Im Sommer 1942 hatte im Camp Ritchie, idyllisch gelegen an den Ausläufern der Blue Ridge Mountains in Maryland, das Military Intelligence Training Center seine Tätigkeit aufgenommen. Es schulte Kursanten für die Aufgabe, Angehörige der Wehrmacht davon abzubringen, weiterzukämpfen und Gefangene zu verhören, um Informationen zu gewinnen, die für militärische Entscheidungen genutzt werden konnten oder das allgemeine Bild der geistigen und mentalen Verfassung des Feindes konkretisierten, was wiederum Möglichkeiten eröffnete, dessen Kräfte zu schwächen.
Einige der Überlebenden, die bereits in Nordafrika, dann in Italien und schließlich auf dem Weg von der Normandie bis ins Reichsgebiet auf diese Weise – mit Schreibmaschinen, Mikrofonen und Lautsprechern mehr als mit Gewehren – am Krieg teilnahmen, haben heute das neunte Lebensjahrzehnt erreicht. Sie bildeten die Hauptquelle für das Buch über die Ritchie Boys, zumal die amtlichen Akten über diese Gruppe weitgehend zerstört wurden. Entstanden ist mehr als ein Nebenprodukt der Arbeit für einen Dokumentarfilm, der inzwischen in Sondervorführungen gezeigt wurde.
In das Camp kam, wer Deutsch lesen und schreiben konnte, nach Möglichkeit außer Englisch noch eine weitere Fremdsprache beherrschte, die US-Staatsbürgerschaft besaß oder bald einbürgern konnte. Das galt besonders für deutsche und österreichische Emigranten, zumeist Juden. Sie stammten in der Regel aus bürgerlichen Elternhäusern, hatten teilweise schon studiert, waren geistig hochinteressiert und intelligent und hatten mit den deutschen Faschisten eine eigene Rechnung zu begleichen. Geboren in Berlin, Wien, Budapest, Prag, im Schlesischen, Hessischen und in Ostpreußen, waren sie zwischen 1933 und 1940, manche über Zwischenstationen, in die USA geflüchtet.
Nun schickten sie sich an, als Angehörige einer siegenden Armee nach Deutschland zurückzukehren, auf eine Weise, die sie sich noch wenige Jahre zuvor nicht hätten vorstellen können. Manche von ihnen landeten bereits 1944 mit den ersten Staffeln auf französischem Boden. Sie gaben deutschsprachige Frontzeitungen heraus, verfassten Flugblätter, die von Flugzeugen abgeworfen oder von der Artillerie verschossen wurden, betrieben über Radio Luxemburg weiße und schwarze Propaganda und richteten einen vorgeblich deutschen Soldatensender ein. Ihre Tätigkeit ähnelte in vielem, was einige Deutsche in der Roten Armee zusammen mit sowjetischen Soldaten unternahmen. Das gilt u. a. für die Methode, mit Flugblättern „Passierscheine“ über feindliche Linien abzuwerfen, die von Überläufern vorgewiesen werden sollten, wenn sie die Front überschritten, sowie für Texte von Flugblättern (wie das 1943 an der Ostfront verbreitete „Die Lehre von Stalingrad“ und das 1944 im Westen über die Frontlinien gebrachte „Die Lehre von Aachen“), mit denen Wehrmachtssoldaten über die tatsächliche Lage unterrichtet wurden.
Ein bemerkenswertes Detail: Eine der Methoden, mit denen in Gefangenschaft geratene deutsche Offiziere, die Auskünfte verweigerten, zum Reden gebracht werden konnten, war die Drohung, sie an die Sowjetunion wegen Verbrechen auszuliefern, an denen sie bei früheren Kriegseinsätzen im Osten hätten beteiligt sein können.
Als die Waffen schwiegen, suchten die Ritchie Boys ihre Angehörigen, die aus Deutschland nicht entkommen konnten. Wenige fanden sie lebend. Verfolgt werden die Lebenswege bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Ideale der Ritchie Boys durch die US-amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland und die einsetzende feindliche Distanzierung gegenüber dem sowjetischen Verbündeten auf eine harte Probe gestellt wurden und die Vorstellungen darüber auseinanderdrifteten, für welches Deutschland sie eigentlich gekämpft hatten. Während Heym nach einigen Jahren in die DDR ging, der Regisseur Hanus Bürger nach Prag zurückkehrte und dort in seinem Beruf arbeitete, Hans Habe, nachdem er in Westdeutschland am Aufbau des Zeitungswesens teilgenommen hatte, in Österreich und der Schweiz lebte, machten die meisten nach Kriegsende Karrieren in den USA, wurden Universitätsprofessoren, Geschäftsleute, Richter und Rechtsanwälte. Manche leicht überprüfbare berichtete Details sind jedoch unzuverlässig. Das gilt für das Zeugnis, es seien in der Ardennenschlacht nach einer Wetterbesserung eine halbe Million (!) Flugzeuge am Himmel erschienen, ebenso wie für die Angabe, der US-amerikanische Kommandant von Weimar hätte Bürger der Stadt zur Besichtigung des KZ Buchenwald mit Lastwagen auf den Ettersberg fahren lassen. (Sie wurden ausdrücklich auf einen anstrengenden Fußmarsch hingewiesen.)
In einer anderen Mission begab sich nach dem Sieg von 1939 über die Schweiz und Kuba in die USA emigrierte Carl Zuckmayer (1896–1977) nach Europa. Er hatte sich um eine Stellung als ziviler „Kulturberater“ beim Kriegsministerium in Washington beworben und den Auftrag erhalten, über seine Eindrücke im besetzten Deutschland und Österreich zu berichten. Aus seinem Besuch von November 1946 bis März 1947, der ihn unter anderem nach Berlin, München, Stuttgart, Wiesbaden und Wien führte und auf ein Signal seiner Vorgesetzten hin vorzeitig abgebrochen wurde, sodass ein bereits genehmigter Aufenthalt in der sowjetisch besetzten Zone nicht zustande kam, ging ein umfängliches Papier hervor, das die „FAZ“ im August 2004 in Folgen zu drucken begann.
Zuckmayer beabsichtigte, seine Auftraggeber zu bewegen, sich von klischeehaften Vorstellungen über Deutschland und die Deutschen zu trennen, und zu überzeugen, dass namentlich die jüngeren deutschen Männer, aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, von der Naziideologie nicht so tief beeinflusst seien, wie vermutet wurde. Er hielt den Ansatz und die Methoden der „Entnazifizierung“ durch die US-Administration für verfehlt und meinte, dass sich die Hinwendung der Deutschen zur westlichen Demokratie in Abhängigkeit von der Unterstützung entwickeln würde, die ihnen beim Kampf gegen den Hunger zuteil würde. Bei der Beurteilung des politischen Standpunkts Zuckmayers halten sich die Herausgeber, die den Band mit aufschlussreichen Anmerkungen versahen, auffallend zurück. Zuckmayer, zumindest angekränkelt von totalitarismustheoretischen Erwägungen, war überzeugt, dass ein Wandel Deutschlands zu einem friedlich-demokratischen Staat in Europa nicht nur ideologische, sondern auch materielle und soziale Voraussetzungen besaß. Eine Bedingung dafür, dass der weitere Weg in die allgemeine Barbarei verhindert werde, sah er in der Existenz stabiler internationaler Aktionsgemeinschaften. In einem der den Band abschließenden Artikel beschäftigten ihn auch die Aussichten der Nazis: „Nazis … werden nie hochkommen, wenn man ihnen nicht den Nährboden schafft und wenn nicht Mächte hinter ihnen stehen, die sie stützen, benutzen, mobilisieren. Seid wachsam gegen solche Mächte …“ Solchen Sätzen fehlt die Konkretisierung; sie erwecken den Eindruck, dass Zuckmayer diese unterließ, weil er wusste, wohin er in den USA sortiert werden würde, sobald er sie ausformulierte.
Mit ähnlichem Auftrag wie der deutsche Dichter begab sich 1945 der gebürtige Ire James Stern (1904–1993) in Diensten des US Strategic Bombing Survey aus den USA in das besetzte Deutschland. Danach schrieb der Autor und Übersetzer sein Buch The Hidden Damage, das 1947 in New York, 1990 auch in London gedruckt wurde und wohl nicht zufällig erst jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Stern wurde mit seinem Freund W. H. Auden im Offiziersrang Mitglied einer Gruppe, die durch systematische Befragungen ergründen sollte, wie nachhaltig der Bombenkrieg das Bewusstsein und die Gefühlswelt der Deutschen beeinflusst hatte. Zugleich sollte sie Informationen über deren Meinung zur Besatzungspolitik einholen. Dazu reiste Stern unmittelbar nach Kriegsende (bis August 1945) nach Frankfurt a. M., Stuttgart, München, Kempten, Nürnberg. Sein Buch bezeugt jenes Kauderwelsch, eine Mixtur aus Naziideologie, unverstandenen alten und neuen Erfahrungen und Eindrücken, bloßen Einbildungen u. a., das die Köpfe der Deutschen im ersten Nachkriegsjahr besetzt hielt. Repräsentative Ergebnisse werden nicht vorgelegt. Die aus der Tätigkeit des Teams hervorgegangenen amtlichen Dokumente dürften historisch belangvoller sein als diese Schilderung. Sie liest sich wie ein unterhaltsamer Reise- und Wiedersehensbericht und könnte – wäre es nicht anders ausgewiesen – dahin missdeutet werden, es sei ein Journalist für ein politisch leicht eingefärbtes Kleinbürgermagazin unterwegs gewesen.
Einen gänzlich anderen, auf Berlin und dessen nahe Umgebung begrenzten, Eindruck von Deutschland gewann zur gleichen Zeit einer der sowjetischen Eroberer der Reichshauptstadt, Wladimir Natanowitsch Gelfand, zweiundzwanzigjähriger Leutnant, Mitglied der kommunistischen Partei, Jude aus der Ostukraine, von dessen Familienangehörigen die deutschen Besatzer einen Großteil umgebracht hatten. In einer Auswahl – Notate aus der Zeit zwischen Januar 1945 (Eröffnung der Offensive an der Weichsel) und September 1946 (Rückkehr des Offiziers in seine Heimat), liegen Texte aus seinem Tagebuch nun vor. Es verdankt seinen besonderen Charakter zum einen der Tatsache, dass es das erste in deutscher Sprache lesbare geschlossene Zeitdokument dieser Art überhaupt ist, zum anderen, dass Rezensenten glauben, ihm vor allem eine Bestätigung ihres Horrorbildes der „Armee Stalins“ entnehmen zu können. Kaum Erwähnung fanden in Buchempfehlungen bürgerlicher Zeitungen Aussagen über die von Ort zu Ort wechselnde, mal erleichterte, mal ablehnende Begrüßung der sowjetischen Soldaten auf polnischem Boden oder über die Kämpfe, an denen die Soldaten der zur von Nikolai Bersarin befehligten 5. Armee gehörenden 301. Schützendivision teilnahmen, ausgetragen am Westufer der Oder, an den Seelower Höhen, dann in den Ostbezirken Berlins und bis ins Stadtzentrum, sowie die dabei erlittenen hohen Verluste. Übergangen werden zumeist auch die Kennzeichnung der Deutschen als Kolonialherren, die Bemerkungen über die Furcht der Deutschen vor dem „Zorn der Russen“ oder auch der Bericht von Kulturveranstaltungen hinter der Frontlinie, so einer Mozartaufführung. Rezensenten lasen hingegen das Bild von „einem ungebildeten und groben, korrupten und diebischen, durch Mißgunst sowie übermäßigen Genuß von Alkohol gefährlichen Haufen“ heraus, „einem chaotischen Heer, dessen Angehörige die Gewalt unbarmherzig auch gegeneinander kehren“. Auf diese Weise wird Gelfand als Außenseiter vorgeführt, naiv und intelligent, neugierig auf die Deutschen, die er mit dem geschlagenen Deutschland, auf das er „spuckt“, jedoch nicht gleichsetzt, sensibel und selbstverliebt, attraktiv und lebenshungrig, von Knechtseligkeit gegenüber Vorgesetzten und Befehlen frei, sich in Berlin mit einem (nicht erbeuteten) Fahrrad bewegend, den Schwarzmarkt besuchend, obendrein deutsche Frauen nicht vergewaltigend, sondern „erobernd“ – nicht anders als, wenige Kilometer entfernt, seine US-amerikanischen Kampfgenossen von gestern, also unter Zuhilfenahme von mancherlei Geschenken.
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