Kaputt. 1945 | ||
Voodoo Child. Die verhexten KinderKinder und Enkel des Nazireichs bevölkern viele Geschichten zum Jahrestag des Kriegsendes. Diese Erinnerungsliteratur will verstehen – und ist doch auch eine Art Exorzismus |
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In den Bergen Perus finden sich bis heute Haifischzähne und andere Überreste einer uralten Erdzeit, die physikalisch auf das Jahrhundert genau zu bestimmen sind. Wie viel ungenauer und schwieriger dagegen die Bestimmung zeithistorischer Daten ist, lässt sich an einem Haifischzahn ganz eigener Art ablesen – dem Jahr 1945. Man gräbt ihn periodisch aus, betrachtet ihn – und versucht, den Abstand zu ermessen, der zwischen ihm und uns liegt. Die Zahl der Jahre besagt hier nicht viel, im Gegenteil. Im Jahr 1975 zum Beispiel lag 1945 viel tiefer in der Vergangenheit vergraben als heute, sechzig Jahre nach Kriegsende. Wie sonst sollte man sich die rätselhafte Flut von Erinnerungsliteratur erklären, die zum Jahrestag des 8. Mai 1945 zu einer wahrhaftigen Springflut angewachsen ist? Wie sonst auch kämen wir dazu, dem Kriegsende neue Ansichten abzugewinnen? Wir machen heute Funde, die noch gestern unter großen, gleichförmigen Gesteinsplatten verborgen lagen. Wir historisieren das Jahr 1945 nicht mehr mit dem Bulldozer, sondern vorsichtig mit dem Spachtel die Spalten und Falten des Geländes absuchend. Eines liegt indessen schon zutage, bevor auch nur ein Stein umgedreht ist: Das Terrain, in dem wir uns bewegen, ist ein anderes als noch zehn oder zwanzig Jahre zuvor. Unermüdlich, hinter unserem Rücken, hat der Gezeitenwechsel unserer gegenwärtigen Erfahrungen die zentnerschweren Platten namens Nation, Schuld oder Identität herumgewälzt, und darunter werden jetzt die Ablagerungen vieler anderer Geschichten sichtbar, deren Abdruck uns unmittelbar berührt. Es sind Geschichten, die sich bislang weggeduckt haben vor den unnachsichtigen historischen Zuschreibern und Einteilern. Geschichten von Kindern, verstörten, versteckten und verleugneten Kindern, die heute selbst um die sechzig Jahre alt sind. Wovon sie erzählen, ließe sich nur gewaltsam unter Kategorien wie Opfer und Täter fassen. Das Gewicht ihrer Biografien ist anders befestigt, freitragend, möchte man fast sagen; aber zu schwer auf der Wegstrecke eines ganzen Lebens und nur zu ertragen und zu erzählen, weil die Lebensumwelt andere, entlastende Wertvorstellungen geschaffen hat. Hätten Begriffe wie Vaterland, Widerstand oder Ehre heute noch dieselbe Bedeutung wie bei Kriegsende, so wären diese Geschichten auch jetzt nicht erzählbar. So unterschiedlich diese Kindergeschichten also sind, so handeln sie doch alle von der allmählichen Verfertigung eines Bewusstseins, das Europa, die europäische Integration, zur Voraussetzung hat. Es ist, als könnten jetzt die vergrabenen Erinnerungen endlich ans Licht geholt werden, da sie nicht mehr politisch konfisziert werden: Die Europäische Union hat, nicht nur bei ihren Mitgliedsstaaten, die Bezüge und den Horizont so sehr verschoben, dass alles, was zum Komplex des Nationalen gehört, im Perfekt steht – und als unglückliche, mit einem Fluch belegte Vorgeschichte die historische Legitimität der Europäischen Union nur noch unterstreicht. Das strahlt bis nach Russland aus, wie die ausdrücklich als privat titulierten «Aufzeichnungen eines Rotarmisten» von Wladimir Gelfand zeigen, die das traditionelle Koordinatensystem der Sowjetzeit verlassen. Am anderen Ende der Generationenleiter findet in Russland derselbe Prozess statt. Der bereits in der dritten Auflage erscheinende, von Irina Scherbakowa herausgegebene Sammelband «Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten» ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. So kommt uns wie unter der Lupe das Jahr 1945 ganz dicht vor Augen. Und erst jetzt, so bemerken wir, wird wirklich eine Schwelle überschritten. Auch der Kanzler – ein Kind des Krieges Die «Erinnerungsgemeinschaft der Kriegskinder», wie Norbert Frei sie in seiner Sammlung von Aufsätzen und Zeitungsartikeln «1945 und wir» nennt, gräbt das mörderische Jahrhundert noch einmal gründlich um. Frei verzeichnet irritiert, dass die Deutschen glauben, sich nun recht ungeniert wieder als Opfer stilisieren zu können: Opfer des Bombenkriegs und auf unbestimmte Weise auch Opfer Hitlers. Ob man darin allerdings eine «Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus» zu sehen hat, ist die Frage. Wenn Gerhard Schröder als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sagt, dass er erst vor kurzem in Rumänien das Grab seines Vaters, eines Wehrmachtssoldaten, gefunden habe, muss man das nicht sogleich als deutsche Gefühlsaufrechnung brandmarken. Es ist durchaus fraglich, ob mit Äußerungen dieser Art «Umcodierungen der Vergangenheit» vorgenommen werden, die implizit auf eine Entschuldung der deutschen Geschichte drängen. Dass dergleichen weder möglich noch von Schröder ernstlich als politisches Ziel gesetzt ist, liegt auf der Hand. Viel zu gewichtig und, wenn man so will, erfolgreich war die «Vergangenheitsbewältigung» seit 1989, als dass sich auf sie verzichten ließe. Sie ist zu einem Pfund geworden, mit dem man in Europa wuchert. Das
Private dieser öffentlichen Äußerung, die Schröder
ausdrücklich als Kind des Krieges herausstellt, diese
familiäre Geschichtsbetrachtung also führt auf eine ganz
andere Spur. Das Grab des Vaters erscheint nicht als Abdruck einer
Feindestat, als schmerzliche Erinnerung an diejenigen, die den Vater im
Krieg töteten, nicht als Revanchismus des Gefühls. Vielmehr
wird das lange verschollene Grab des Vaters, das zu finden sich
Schröder aufgemacht hatte, zum Zeichen einer Herkunft, deren Das alles erfolgt nicht jenseits der Fragen von Schuld und Weltanschauung, es stellt auch nicht die Was aber in solchen Erinnerungsmomenten tatsächlich geschieht, ist die Überwindung der Kriegsfolgen im Individuellen. Mögen Kohl und Mitterrand sich über den Gräbern von Verdun die Hände gereicht haben, mag Gerhard Schröder den Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie als erster deutscher Kanzler gemeinsam mit den Siegermächten begangen haben – wenn dieser staatspolitischen Vergangenheitssymbolik kein Äquivalent in der individuellen Erinnerung entspräche, wäre sie wortwörtlich bodenlos. Das familiäre Gedächtnis hat allerdings andere Fächer als das politische, wie der Historiker Harald Welzer gezeigt hat. Hier sind die Prioritäten anders gesetzt als in den Werken der Zeitgeschichtsschreibung. «Bastarde», verfemte Existenzen Wie nah uns das Jahr 1945 noch bis vor kurzem gewesen sein muss, wird schlagartig am Schicksal der «Wehrmachtskinder» klar, denen Ebba D. Drolshagen in ihrem gleichnamigen Buch nachgeht. Mit den «Wehrmachtskindern» sind jene Kinder gemeint, die aus Liebesbeziehungen zwischen Soldaten der Wehrmacht und Frauen aus den besetzten Ländern hervorgegangen sind. Man schätzt ihre Zahl auf bis zu zwei Millionen. Gleichgültig, welches politische Regime, gleichgültig, ob Sieger oder Besiegter: man nannte sie «Bastarde», «Enfants de Boches», man tabuisierte oder terrorisierte sie. Die ethnische Abstammung, oder sagen wir gleich: das Blut war stärker, es zählte mehr als politische Grundeinstellungen oder auch nur schlicht die Achtung des individuellen Schicksals. Das «Wehrmachtskind» galt als leibhaftiges Zeugnis eines Verrats: null Toleranz für die Liebe in Zeiten des Krieges – und des anschließenden Friedens. Ebba D. Drolshagen zeigt in ihrem Buch eindringlich, wie lange die Herkunft dieser Kinder regelrecht untergepflügt wurde, wie die politisch unkorrekten Liebespaare als «anarchistische Einheiten» betrachtet wurden und ihre Geschichte bis in unsere Tage mit dem Fluch einer verbotenen Grenzüberschreitung belegt war. Das liest sich ebenso spannend wie bedrückend. Vom «Großen Schweigen» und dem «Nie wieder Auffallen» bis zum «Aufruhr der Gefühle» verfolgt der Band, wie der untergründige Fluss dieser speziellen Schicksale zu Tage tritt. Sie sind eine außergewöhnliche Quelle für eine sozialanthropologische Geschichte «von unten». Drolshagen verweist zu Recht darauf, dass das Bild der Soldaten, auch das der deutschen Soldaten, vollkommen bestimmt sei durch ihre militärisch-politische Funktionalität. Hierdurch lagen bestimmte Erfahrungsschichten des Weltkriegs lange im dunkelsten Schatten. Die Soldaten waren eben keinesfalls durchgängig Vergewaltiger und politische Fanatiker. Die Individualität, die ihnen die Uniform schon einmal genommen hatte, wurde ihnen, von Einzelfällen abgesehen, historisch nie wiedergegeben. Die Soldaten waren indessen mehr oder weniger gefühlsbegabte Männer, die sich gelegentlich in Frauen der besetzten Länder verliebten. Zwanzigjährige in Uniform als Lustobjekte Die Sexualität im Krieg, so Drolshagen weiter, wurde nahezu totgeschwiegen, sofern sie nicht mit Gewalt und Terror oder (Zwangs-)Prostitution zu tun hatte. Dabei führte die Besatzung häufig zu symbiotischen, wenn auch ungleichgewichtigen Beziehungen auf den Dörfern und in den Städten der besetzten Länder. Die meisten einheimischen Männer waren fort, in Kriegsgefangenschaft oder bei den eigenen Truppen, und so traten nach und nach die deutschen Soldaten in den Alltag der Bevölkerung ein. In norwegischen Dörfern zum Beispiel halfen sie, wenn ein Schaden am Haus zu reparieren war oder ein Pferd krank wurde. Und sie waren, obschon Soldaten des Feindes, auch Objekte der (Schau-)Lust. So im Sommer 1940 auf den Kanalinseln, wo sie für die damaligen Verhältnisse nur knapp bekleidet im Meer badeten – zum Missfallen älterer, sittenstrenger Damen und zum neugierigen Wohlgefallen der Mädchen. Man braucht sich nur vor Augen zu halten, dass die meisten Soldaten zwischen 18 und 25 Jahre alt waren, um sich zu vergegenwärtigen, wie stark, inmitten von Bedrohung, Lebensgefahr und Ohnmacht, die gegenseitige Anziehung werden konnte. Was aber geschah, wenn aus dem Augenflirt aus sicherer Distanz eine nähere Bekanntschaft wurde? Es war für die Betroffenen beides zugleich: ein großes Glück – und ein großes Unglück. Verliebten sich die beiden in Holland, Dänemark oder Norwegen, hatten sie von deutscher Seite aus nicht nur Aussicht auf Duldung, sondern, aus rassepolitischer Sicht, sogar auf eine gewisse Förderung. Anders sah es in den ost- oder südosteuropäischen Ländern und auch in Frankreich aus. Vor allem in Osteuropa standen Beziehungen unter schwerer Strafe. Hier holten Krieg und Politik alle Herzensausbrecher rasch wieder ein. Ebba D. Drolshagen hat bemerkenswerte Einzelfälle gefunden, in denen sich die Liebenden gegen den politischen Widerstand von allen Seiten behaupteten. Ein Happyend gibt es meistens nicht. Was aber geschah, wenn aus diesen Verbindungen Kinder hervorgingen? Es folgte die «Schande» der Schwangerschaft, mit unterschiedlichsten Strategien der Selbstbehauptung. Neben Abtreibung und Selbstmord kam es häufig zu einer familiären Camouflage, in der die Schwangerschaft erst versteckt, der Säugling dann später gewissermaßen umgewidmet wurde – und mit einem Mal das Kind der schon verheirateten Schwester war, während die Mutter zur Tante ihres eigenen Kindes wurde. Die Behörden in Norwegen und anderswo halfen in solchen Fällen kräftig mit. Es wurde per Gesetz angeboten, die Väter zu anonymisieren und damit die Biologie mithilfe nationalstaatlicher Ideologie zu reinigen. Das führte zu Heimlichkeit und Halbwahrheit in unvorstellbarem Ausmaß – umso drückender, je älter diese Kriegskinder wurden, umso drückender gelegentlich auch für manche Ehe. Wenn ein angesehener Chirurg oder einer der Honoratioren der Stadt melancholisch, ja depressiv wird, oft zum Bahnhof geht und scheinbar grundlos den Zügen hinterherschaut und erst nach Jahren herauskommt, dass er sich als Soldat auf der Krim in ein Mädchen verliebt hatte, dessen ungewisses Schicksal und die Frage, ob er mit ihr ein Kind hat, ihn nun umtreibt – dann wird deutlich, wie tief die Wunden sind. Der Schädel der toten Mutter Betrachtet man die Literatur, die aus Anlass des 60. Jahrestags des Kriegsendes erschienen ist, dann scheint in der Problematik dieser Kriegskinder – und man umfasst damit die Liebenden im Krieg wie ihre Kinder – ein Schlüssel zum Verständnis der großen Konjunktur von Erinnerungsstücken zu liegen. Es ist deshalb wohl auch kein Zufall, dass zum gleichen Thema von Jean-Paul Picaper und Ludwig Norz ein sehr lesenswertes Buch über das tragische Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich unter dem Titel «Die Kinder der Schande» erschienen ist, das in einer gelungenen Mischung aus Einzelfall und systematischer Analyse verfolgt, wie politische und militärische Ordnungsprinzipien die Einzelschicksale so lange pressen, bis sie sich irgendwie ins große Ganze fügen oder einfach weggedrückt werden. Das Schweigen ist auch ein Zentralmotiv in Niklas Franks Abrechnung «Meine deutsche Mutter». Mit literarischem Mut, auch mit Wut versucht der Autor – Sohn des in Nürnberg hingerichteten Hans Frank, Generalgouverneur von Polen – das Bild seiner Mutter, Brigitte Maria Frank, zu zeichnen. Es ist, man kann es kaum anders sagen, das Bild einer willensstarken Tochter, die den schwachen Vater verachtet und zugleich liebt. Sie gibt sich in einer Art permanenter Erregtheit der Macht und den Mächtigen hin, ohne auch nur eine Sekunde ihren Eigensinn aufzugeben und ihren Vorteil aus den Augen zu verlieren. Das Buch ist drastisch geschrieben, packend. Und das eigentliche Thema ist natürlich das Verhältnis dieser Mutter zu ihrem Sohn, der sich aus ihrer Umklammerung lösen will: aus dem Diktat der Erbarmungslosigkeit, das für seine Mutter zum Lebensprinzip wurde. Auch hier tritt uns ein Kind des Krieges entgegen, für das der Krieg und seine Gestalten erst mit dem Buch zu Ende gegangen sind. Am Schluss schaut ihn der Schädel der exhumierten Mutter aus einer Plastiktüte auf dem Friedhof an. Ein böser Zauber – Voodoo Child. Die Erinnerungsliteratur zu 1945 ist zugleich als exorzistischer Akt und als Aneignung der eigenen Vergangenheit zu begreifen. Helden denken nicht an die Folgen Es ist ein generelles Zeichen der Publikationen, die sich mit dem Kriegsende 1945 beschäftigen, dass sie großen Wert auf die einzelne Stimme und die Vielfalt der Wahrnehmungen legen. Was in Walter Kempowskis «Echolot» (siehe „Literaturen” S. 24) episch breit angelegt ist, findet man systematischer und mit einer ausgeprägteren Leserführung in dem ausgezeichneten, von Gerhard Hirschfeld und Irina Renz herausgegebenen Band «Vormittags die ersten Amerikaner», der die Erfahrungswelten der Deutschen 1945 in Bildern und komprimierten Textauszügen von berühmten und unbekannten Zeitgenossen darstellt. Prägnanter und hilfreicher lassen sich die panoramatisch angeordneten Erinnerungsteile, denen eine Chronik den Platz anweist, nicht zu einem Bild fügen. Um aber nicht einem trügerischen historistischen Wohlgefallen zu erliegen, sollte man die Einzelerinnerungen in ihren Antrieben noch genauer betrachten. Denn zwischen dem «Privaten» und dem «Öffentlich-Politischen» hat sich ein tiefer Spalt geöffnet, der nur deshalb sichtbar werden darf, weil die europäischen Nationen inzwischen ihre Rolle als Letzt-Instanz politischer Identität wenn nicht eingebüßt haben, so doch wesentlich eingeschränkter ausfüllen. So legt sich Margret Nissen in ihrem Buch «Sind Sie die Tochter Speer?» Rechenschaft über ihren «privaten Vater» und die historische Gestalt Albert Speer ab. So hat Masha Gessen ihre ganz und gar unglaubliche Familiengeschichte zu einer großen Saga geformt, in deren Mittelpunkt ihre beiden Großmütter stehen. Die eine, Esther, ist eine chassidische Jüdin, die nach dem Einmarsch der Deutschen nach Russland flieht; die andere, Rusja, ist eine Moskowiter Lehrerin, die sich vor dem stalinistischen Terror zu retten versucht. Bei Gessen hört man eine der Großmütter einen einfachen Satz sagen, der der heute so oft beschworenen Zivilgesellschaft mit ihrer allseitigen Umsicht und Eigenverantwortlichkeit zu denken geben sollte. Die Großmutter sagt im Hinblick auf die Menschen, die sie einst retteten: «Wenn jemand eine heldenhafte Tat vollbringt oder einfach eine moralische Handlung, die eine gewisse Gefahr mit sich bringt, kommt es darauf an, dass er nicht an die Folgen denkt.» So einfach ist das, und so bang kann dem Leser dabei werden, wenn er in dieser Hinsicht an unsere Gesellschaft denkt, die vor lauter vorsorgender Selbstbezüglichkeit ihren moralischen – wie im Übrigen auch ihren vitalen – Behauptungswillen keinerlei Belastung aussetzen mag. Jedenfalls gibt es hier eine Spannung zwischen einer Ökonomie des maximalen Selbstschutzes einerseits und andererseits der Propaganda der Zivilgesellschaft, die doch gerade im Alltag Courage und sogar Opferbereitschaft verlangt. Vielleicht ist die Kultivierung des Status quo wirklich die letzte noch in Erinnerung gebliebene Kriegslektion, die im Privaten länger haften geblieben ist als im Politischen. Vor allem mit dem militärischen Engagement im ehemaligen Jugoslawien während der neunziger Jahre hat die Bundesrepublik sich von der Maxime «Nie wieder Krieg» verabschiedet. Das Jahr 1945 rückt uns deshalb so nah, weil alles, was in der Zeit bis 1989 kam, inzwischen so fern gerückt ist. Und wir können nun das Paradox erkennen, in dessen Zeichen die europäischen Gesellschaften seitdem stehen: Als alte Gesellschaft muss Europa allerjüngste Erfahrungen machen, auf die es noch keine erprobten Reaktionen gibt. Man weiß allerdings, dass diese Reaktionen in einer Zone des Ungewissen liegen. Das Ungewisse aber hatte man seit Kriegsende gescheut wie nichts anderes, Verlässlichkeit war nicht nur in der Bundesrepublik die Parole. Der politische Kontinent Europa erinnert sich des Jahres 1945, so wie man sich Mut macht vor einer langen Reise. Der Haifischzahn 1945 ist Talisman und Schatten des großen Tiers zugleich.
Michael Jeismann ist Redakteur der F.A.Z. und lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Basel. Zuletzt erschien von ihm «Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen». Erwähnte Bücher Norbert Frei Ebba D. Drolshagen Jean-Paul Picaper, Ludwig Norz Margret Nissen Irina Scherbakowa (Hg.) Niklas Frank Masha Gessen Wladimir Gelfand Gerhard Hirschfeld, Irina Renz (Hg.) Weitere Bücher zum Kriegsende Rolf-Dieter Müller Gerhard Schreiber |
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