Sieger und Besiegte. Flucht, Vertreibung und stalinistischer
Terror in der SBZ/DDR «Das Schloß eines deutschen Magnaten», vermerkte der
22-jährige Leutnant Wladimir Gelfand aufgewühlt am 18. April 1945 in seinem
Kriegstagebuch. «Welche Pracht und was für ein Luxus!», brach es frei aus ihm
heraus, womit er die Gefühlslage stellvertretend für viele seiner damaligen
Frontkameraden traf: «Man kann sich nur schwer vorstellen, daß hier ein
einziger Mensch gelebt hat, dem dies alles gehörte. Von jetzt an gehört es
übrigens uns, jetzt ist alles sowjetisch, und ich empfinde heute voller Freude,
wie großartig unser Sieg ist.»[1] Bis dahin standen Gelfands Granatwerferzug allerdings noch
knapp zwei Wochen verlustreicher Kämpfe bevor. Die letzte blutige Schlacht um
die Reichshauptstadt Berlin tobte bereits seit zwei Tagen. Sie endete am 2. Mai
1945 für die Rote Armee im Siegesrausch. Zuvor hatten ihre Spitzen die
Reichstagsruine erstürmt und mit dem roten Banner das Symbol der glorreichen
Sowjetmacht auf das Dach des einstigen deutschen Parlaments gesetzt. Der
Kriegsfotograf Jewgenij Chaldej hielt diesen bewegenden Moment in einer
spektakulären Aufnahme fest. Doch anders als suggeriert dokumentierte er nicht
die letzten Augenblicke des untergehenden «Dritten Reiches». Chaldej hatte
vielmehr die Fotografie nach den Kampfhandlungen eigens inszeniert, im
Entwicklungslabor der Moskauer Nachrichtenagentur TASS mit spezieller Dramatik
versehen, entsprechend retuschiert, und dann erst war die Ikone des
sowjetischen Sieges über Hitler-Deutschland fertig, die kurz darauf über die
internationalen Bildagenturen um die gesamte Welt ging.[2]. ____________________
In eklatantem Widerspruch zu derartigen Schutzmaßnahmen, vor
allem aber zur Befreier-Mission, die sich die Rote Armee in den letzten
Kriegstagen selbst verordnet hatte, standen die Massenvergewaltigungen
deutscher Frauen und Mädchen. Hier ereigneten sich Exzesse, die nicht allein
aus lang gehegter Wut begangen wurden. Oft kamen sie erst spontan unter erheblichem
Alkoholeinfluss zustande. Dabei machten sich weniger die Sturmtruppen der
Angriffswellen solcher Vergehen schuldig. Die enorme Vormarschgeschwindigkeit
während der militärischen Operationen ließ ihnen kaum mehr Möglichkeiten, als
die legendären Uhren deutscher Zivilisten hastig «einzusammeln». Meist waren es
deshalb die nachrückenden Schützenverbände, die im Zuge der Frontabsicherung
und Säuberung des eroberten Geländes von feindlichen Elementen überhaupt Zeit
für solche sexuellen Gewaltverbrechen fanden.[17] Ungehemmt wüteten die Täter. Ganze Trupps und Züge machten
regelrecht Jagd auf Frauen. Vielfach bedrängten sie ihre hilflosen Opfer mit
vorgehaltener Waffe in der Hand und ignorierten dabei jegliche Altersgrenzen,
wenn sie sich an diesen vergingen. Ebenso erging es Polinnen während des
Schlesienfeldzuges, sogar einst verschleppte sowjetische Zwangsarbeiterinnen
waren nicht gefeit davor. Doch der eigentliche Terror richtete sich gegen
Deutsche. Immer wieder kam es vor, dass Mütter sich schützend vor ihre Töchter
stellten. Sie boten sich selbst den marodierenden Sowjetsoldaten an, um ihren
Mädchen ein schlimmes Schicksal zu ersparen. Frauen wurden darüber hinaus vor
den Augen ihrer Familienangehörigen in aller Öffentlichkeit geschändet, häufig mehrfach.
Sofern Ehemänner oder Väter das grausige Treiben zu verhindern suchten,
riskierten sie, von den Peinigern kurzerhand erschossen zu werden.[18] Um der anhaltenden Gefahr von Mehrfachvergewaltigungen
möglichst zu entgehen, suchten vor allem junge Frauen in ihrer Verzweiflung
immer wieder nach dauerhaften Partnerschaften mit Rotarmisten. Dabei kam es
bisweilen zu dramatischen Szenen, wie Leutnant Wladimir Gelfand sich erinnerte.
Ein mehrfach in Gegenwart ihrer Mutter missbrauchtes Mädchen flehte ihn
schutzsuchend an: «‹Bleib hier!› bedrängte [sie] mich […] plötzlich, ‹du wirst
mit mir schlafen. Du kannst mit mir machen, was du willst, doch nur du allein!
Ich bin bereit, mit dir […], zu allem bereit, was du willst, nur rette mich vor
all diesen Männern mit diesem Sch…!› Sie zeigte alles, sprach über alles, und
nicht, weil sie vulgär war. Ihr Kummer und ihr Leid waren stärker als ihre
Scham und ihre Schüchternheit, und jetzt war sie bereit, sich vor den Leuten
ganz auszuziehen, nur damit man ihren gequälten Körper nicht anrühren möge,
einen Körper, der noch etliche Jahre hätte unberührt bleiben können […].»[19] Obwohl Vergewaltigung und Plünderei seit den letzten
Kriegstagen, spätestens aber nach der bedingungslosen Kapitulation der
Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 als militärische Disziplinlosigkeit geahndet werden
sollten – auf derartige Vergehen stand bisweilen Exekution oder öffentliches
Auspeitschen –, hielten es die Vorgesetzten in dieser Hinsicht nicht immer
genau. Sie brachten den Delinquenten vielmehr Verständnis entgegen. Denn
immerhin bewegte man sich im Feindesland, auch wenn es in der Selbstwahrnehmung
nunmehr befreit worden war. Selbst die zuständige Geheimpolizei übte sich in
solchen Situationen anfänglich meist in Zurückhaltung. Die Szenerie der letzten
Kriegstage kannte aber auch andere Alltagssituationen, wenngleich diese eher
die Ausnahme blieben: Da gab es mitfühlende, des sinnlosen Mordens überdrüssig
gewordene Rotarmisten. Sie suchten das Ausmaß der Ausschreitungen und
Übergriffe einzugrenzen, bewahrten Frauen und Kinder vor Racheakten, steckten
diesen sogar Lebensmittel zu und setzten dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel.
Zumindest liefen sie stets Gefahr, vom sowjetischen Geheimdienst NKWD des
Mitleids mit dem Feind bezichtigt zu werden, was zum Beispiel Lew Kopelew oder
Alexander Solschenizyn langjährige Lagerhaft einbrachte.[20] Den meisten Deutschen im Osten oder in der sowjetischen
Besatzungszone (SBZ) blieben allerdings weniger die kleinen humanitären Gesten
couragierter Sowjetsoldaten in dauerhafter Erinnerung. Vielmehr dominierten die
Schreckenserlebnisse der weiblichen Zivilbevölkerung das Bewusstsein der
Besiegten, was aber die Betroffenen aus Scham oder Angst vor Stigmatisierung
verdrängten. Öffentlich darüber zu reden, war politisch unerwünscht. Vor allem
in der SBZ konnten und wollten die deutschen Kommunisten, die nun mit
nachhaltiger Unterstützung der UdSSR eine neue politische Ordnung aufbauten,
das Verhältnis zur Besatzungsmacht nicht belasten oder diese gar
kompromittieren. Zumindest die aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten
Führungskader der KPD zögerten und suchten die Übergriffe von Rotarmisten mit
den deutschen Verbrechen in der UdSSR zu relativieren. Da die Partei zugleich
aber auch um die Sympathien deutscher Wähler rang, steckte sie in erheblichen
Erklärungsnöten. Und so bevorzugte sie eher das Beschweigen.[21] Das galt umso mehr, als die Opferbilanz außerordentlich hoch
war. Selbst Frauen von Kommunisten gehörten zu den sexuell Gepeinigten. Allein
in Berlin wurden zwischen Frühjahr und Herbst 1945 – bezogen auf etwa 1,4
Millionen Einwohnerinnen – mindestens 110000 Frauen und Mädchen vergewaltigt,
bis zu 40 Prozent von ihnen sogar mehrfach. Rund 10000 Personen bezahlten die
sexuellen Gewaltakte mit dem Leben. Sie starben an den Folgen der
Misshandlungen oder an Geschlechtskrankheiten, mit denen sie infiziert worden
waren. Rund 20 Prozent der Vergewaltigten wurden schwanger, von denen etwa 90
Prozent eine Abtreibung vornehmen ließen. In vielen Fällen geschah dies
unprofessionell ohne ausreichende medizinische Hilfe. Häufig nahmen die
Betroffenen diese sogar selbst vor, was ebenfalls die Todesrate in die Höhe
trieb. Immer wieder sahen verzweifelte, seelisch traumatisierte und körperlich
erkrankte Vergewaltigungsopfer nur den Ausweg, sich der empfundenen Schande
durch Selbstmord zu entziehen. Dies sind lediglich Zahlen und Schätzungen für die eroberte
Reichshauptstadt. Bezogen auf die übrige SBZ sowie die Ostgebiete jenseits von
Oder und Neiße, gehen die Annahmen von ungefähr 1,9 Millionen missbrauchten
Frauen und Mädchen aus. Davon lebten allein etwa 500000 in der sowjetischen
Okkupationszone. Freilich wird sich das gesamte Ausmaß sexualisierter
Gewaltverbrechen zahlenmäßig kaum mehr exakt rekonstruieren lassen.[22] Das gilt nicht minder für die Motive, die sowjetische
Soldaten zu solchen Taten bewogen. In ihren Feldpostbriefen jedenfalls
schwiegen sie sich darüber in der Regel aus. Der Zwang zu «sexueller
Enthaltsamkeit», verschärft durch die Tatsache, dass die Truppe während des
Krieges kaum in den Genuss eines Fronturlaubs kam, kann freilich kaum ausreichend
erklären, weshalb sie sich mit der Eroberung deutschen Territoriums in dieser
Hinsicht exzessiv auslebte. Das Bild vom generell «sexuell ausgehungerten
Russen» griff in diesem Zusammenhang insbesondere die NS-Propaganda gerne
während der letzten Abwehrkämpfe auf, angereichert mit rassistischen
Kommentaren. Bisweilen argumentierten Rotarmisten ähnlich. Das war vor allem
dann der Fall, wenn sie die Vergewaltigungsdelikte allein als Affekttaten
während des ungebremsten Siegestaumels zu rechtfertigen suchten. So vielschichtig die Ursachen dieser Untaten insgesamt auch
waren, bei dem Versuch, hinlänglich Antworten darauf zu finden, wird man auch
um sozialpsychologische Erklärungen nicht herumkommen. Die in patriarchalischen
Gesellschaftsverhältnissen und oft im Geiste hegemonialer Männlichkeit
sozialisierten Eroberer betrachteten Vergewaltigungen gemeinhin als ein
ureigenes Siegerrecht. Sexueller Missbrauch war zugleich Ausdruck einer
rituellen Gewaltbefriedigung und ein Akt grenzenloser Machtdemonstration. Die
Frauen des Feindes wurden nicht nur entehrt, sondern zugleich deren Männer ganz
bewusst in höchstem Maße gedemütigt, weil sie ihrer klassischen Schutzaufgabe
nicht mehr gerecht werden konnten. Dabei empfanden es viele Sowjetsoldaten als besondere Genugtuung,
dass all dies nun den einstigen deutschen Invasoren widerfuhr. Denn sie hatten
sich in der Sowjetunion seinerzeit als arrogante «Herrenmenschen» geriert und
in weltanschaulicher Überlegenheitsattitüde tagtäglich sogenannte slawische
Untermenschen rücksichtslos terrorisiert oder grausam ermordet. Nun schlug die
Stunde der einst Stigmatisierten. Sie revanchierten sich dafür, dass Angehörige
der Wehrmacht und SS trotz des Verbots der «Rassenhygiene» kaum minder brutal,
wenngleich nicht in demselben Ausmaß sexuelle Missbrauchsverbrechen in den
ehemals besetzten Gebieten der UdSSR begangen hatten.[23] Für das künftige
Verhältnis von Befreiern und – angeblich – Befreiten verhieß all dies nichts
Gutes. Fortan jedenfalls trennte Russen und Deutsche für lange Zeit eine
schwere, nahezu unüberwindbare Kluft der Erinnerung. |
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S. 528 Gelfand, Wladimir: Deutschland-Tagebuch 1945–1946 Personenregister S. 600 Gelfand, Wladimir Anmerkungen S. 707 Gelfand, Tagebuch, S. 77 (Zitate). Anmerkungen S. 707 S. 354–356. – Gelfand, Tagebuch, S. 29. Anmerkungen S. 709 Gelfand, Tagebuch, S. 79–80 (Zitat). |
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