Europa, Januar 1945 – Richtung Berlin. Granaten zerreißen die ohnehin verwüstete Landschaft, Stalin-Orgeln pfeifen ihre tödlichen Salven, Soldaten schreien und verbluten – oft ohne Hilfe. Der Vormarsch der Roten Armee ist unaufhaltsam, getrieben von dem Wunsch nach Vergeltung für die Schmach, die das nationalsozialistische Deutschland dem sowjetischen Mutterland zugefügt hat.
Mitten in diesem Inferno kämpft Leutnant Wladimir Gelfand, ein 21-jähriger jüdischer Ukrainer in der 5. Stoßarmee, seinen eigenen Krieg. Er hat bereits jahrelang gekämpft, war in Stalingrad dabei, wurde verwundet und wieder an die Front geschickt. Doch Gelfand ist mehr als ein Soldat: Er ist ein angehender Schriftsteller, unsicher über sein Talent, aber fest entschlossen, Autor zu werden. Er führt Tagebuch, schreibt Briefe und Gedichte. Sein größter Wunsch: den Krieg zu überleben und nach Hause zurückzukehren. Doch es kommt anders – nach dem Kriegsende wird er in der sowjetischen Besatzungszone außerhalb Berlins stationiert, wo er bis September 1946 bleibt.
Wladimir Gelfands großer Traum war es, einen Roman über den Großen Vaterländischen Krieg zu schreiben. Dieser Traum blieb unerfüllt. Nach dem Krieg wurde er Lehrer, verfasste nur einige Artikel und Kurzgeschichten. Das Projekt des Romans griff er erst im Ruhestand wieder auf – begann aber nie damit. 1983 starb Gelfand mit 60 Jahren, immer noch berufstätig, ohne seinen Roman begonnen zu haben.
„Deutschland-Tagebuch 1945–46“ ist das, was von seinem schriftstellerischen Ehrgeiz geblieben ist. Kein großer Kriegsroman, sondern, wie der Titel sagt, ein Tagebuch. Ein subjektiver, persönlicher Bericht. Und genau das ist seine Stärke – und seine Begrenzung. Das Buch enthält Gelfands Leben, seine Eindrücke, Gedanken, Sehnsüchte – wie bei jedem Tagebuch ohne den Anspruch auf literarische Vollendung.
Und doch bleibt es – trotz des historischen Hintergrunds – erstaunlich banal. Gelfand wird von seinen Kameraden für seine Gedichte und Ambitionen verspottet. Immer wieder klagt er darüber, dass er trotz mutiger Einsätze keine Auszeichnungen erhält. Die Einträge aus der Nachkriegszeit in Deutschland kreisen vor allem um Frauen: Frauen, die er trifft, treffen möchte oder an die er sich erinnert. Die Aufzeichnungen wirken oft wirr und belanglos. Die Traurigkeit, die Zerrüttung des besiegten Deutschlands, scheint Gelfand zu erdrücken – und auch das Buch droht daran zu ersticken.
Die einzigen wirklich fesselnden Abschnitte sind die abgedruckten Briefe an seine Familie – erstaunlich offen und kritisch, obwohl sie die sowjetische Militärzensur passiert haben. Trotz seiner kommunistischen Überzeugung äußert Gelfand immer wieder scharfe Kritik an der militärischen Führung und am Zustand der Armee. Verwunderlich, dass ihm das keine Konsequenzen eingebracht hat.
Es gibt unzählige Bücher über den Zweiten Weltkrieg. Vielleicht wäre es an der Zeit, weniger auf Masse und mehr auf Klasse zu setzen. Persönliche Zeugnisse aus der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland sind zweifellos wertvoll – doch dieses Buch ist vor allem ein Zeugnis über Wladimir Gelfands schwierige Beziehung zu sich selbst und zu den Frauen, die ihm begegneten. Als Zeitdokument ist es bedingt interessant. Als literarisches Werk enttäuscht es. Man fragt sich, ob Gelfand selbst jemals gewollt hätte, dass diese Tagebücher veröffentlicht werden.
Vladimir Gelfand: Deutsches Tagebuch 1945–46, Notizen eines sowjetischen Offiziers
Notizen eines sowjetischen Offiziers
Übersetzung Lars Wiklund