Der Zweite Weltkrieg in Europa endete Anfang Mai 1945 – zwischen dem 2. Mai, als Berlin kapitulierte, und dem 8. Mai, als die deutsche Wehrmacht offiziell die Kapitulation unterzeichnete. Doch für viele Deutsche bedeutete das Ende des Krieges keineswegs das Ende des Leidens: In jenen Tagen wurden unzählige Frauen, Mädchen und ältere Frauen von Soldaten der sowjetischen Armee vergewaltigt. Die Zahlen lassen sich nur schwer überprüfen, aber allein in Berlin ist von Hunderttausenden die Rede, landesweit von bis zu zwei Millionen. Diese Geschichte findet sich selten in Geschichtsbüchern, und auch in Deutschland wurde sie erst in den letzten Jahren zunehmend thematisiert.
Ein Vorspiel
Seit 1943 war klar, dass Deutschland den Krieg verlieren würde – es war nur noch eine Frage der Zeit und der Frage, wer zuerst deutschen Boden betreten würde. Besonders groß war die Angst vieler Deutscher, dass die ersten die Russen sein würden: Die NS-Propaganda hatte die „Slawen“ und „Bolschewiken“ jahrelang als zu jeder Barbarei fähig dargestellt.
Ein erster Vorgeschmack auf das, was Deutschland nach dem Fall des NS-Regimes erwartete, zeigte sich im Oktober 1944, als eine kleine Einheit der Roten Armee kurzzeitig das ostpreußische Dorf Nemmersdorf einnahm. Als die Deutschen zurückkehrten, fanden sie die Leichen von 74 Menschen – darunter Frauen, Kinder und alte Menschen. Die Frauen – im Alter zwischen 8 und 84 Jahren – waren alle vergewaltigt und gefoltert worden. Einige Leichen waren an die Türen einer Scheune genagelt. Die Nazis fotografierten das Massaker und verbreiteten die Bilder in ganz Deutschland. Viele glaubten der Propaganda nicht – doch bald sollten sie es am eigenen Leib erfahren.
Ostpreußen
Die ersten sowjetischen Truppen, die wenige Monate später Deutschland betraten, überraschten die einheimische Bevölkerung zunächst durch Höflichkeit und Menschlichkeit. Doch Offiziere warnten: „Für unsere Leute können wir garantieren, nicht aber für die, die nach uns kommen.“ Hinter den disziplinierten Frontsoldaten folgten bald nachrückende Truppen – erschöpft, gelangweilt, disziplinschwach und oft betrunken. Als diese Männer Ostpreußen erreichten, begann laut dem Historiker Max Hastings eine Welle der Vergewaltigungen, die nicht mehr allein sexuellen Trieben geschuldet war, sondern dem Wunsch, eine ganze Gesellschaft zu demütigen.
Der Historiker Antony Beevor, der sowjetische Archive einsehen konnte, schätzt, dass allein in Ostdeutschland 1,4 Millionen Frauen vergewaltigt wurden. Andere Schätzungen sprechen von bis zu zwei Millionen. Auch Mädchen und alte Frauen sowie sowjetische Kriegsgefangene wurden nicht verschont – letztere, weil sie als Verräter galten, die sich hatten gefangen nehmen lassen. Die Massenvergewaltigungen waren Ausdruck einer Mischung aus Erschöpfung, Rachsucht und Alkoholmissbrauch.
Besonders verheerend war die Wirkung der sowjetischen Propaganda. Politkommissare begleiteten jede Einheit der Roten Armee. Ihre Aufgabe: Die Soldaten zum Hass auf die Deutschen anzustacheln und zur Vergeltung zu motivieren. Zwar sagte niemand offen, man solle deutsche Frauen vergewaltigen – offiziell hieß es, der sowjetische Soldat sei zu erfüllt von Hass, um an so etwas zu denken. Aber in der Praxis gab es keine Konsequenzen. Wie Alexander Solschenizyn – Autor des „Archipel Gulag“ und selbst Artillerieoffizier – schrieb: „Jeder wusste, dass man deutsche Mädchen vergewaltigen und sie dann erschießen konnte.“
Während britische und amerikanische Generäle die Todesstrafe für Vergewaltigung wieder einführen wollten, zeigte sich die sowjetische Führung ungerührt. Als ein jugoslawischer Führer sich über Vergewaltigungen sowjetischer Soldaten in seinem Land beschwerte, antwortete Stalin:
„Haben Sie eine Ahnung, wie kompliziert der menschliche Geist ist? Stellen Sie sich einen Mann vor, der von Stalingrad bis Belgrad marschiert ist – über tausend Kilometer durch ein zerstörtes Land, übersät mit den Leichen seiner Kameraden und seiner Familie. Wie soll so jemand sich normal verhalten? Und was ist so schlimm daran, sich nach all dem Grauen mit einer Frau zu vergnügen? Wichtig ist nur, dass wir gegen Deutschland kämpfen. Alles andere ist unwichtig.“
Der Vormarsch der Roten Armee löste eine Massenflucht aus Ostdeutschland aus: Mehr als zwei Millionen Menschen verließen Preußen, Schlesien und Pommern. Hunderttausende dieser Flüchtlinge gelangten nach Berlin – mit Berichten über Gräueltaten im Gepäck. Viele Berliner begegneten diesen Erzählungen mit Skepsis. Ihre Stadt war fast zwei Jahre lang täglich bombardiert worden – die Flüchtlinge kamen aus Regionen, die bis dahin verschont geblieben waren. In Berlin kursierte der Spruch: „Lieber ein Russe über mir als eine Bombe.“
Berlin
Die BBC-Journalistin Lucy Ash veröffentlichte 2015 einen ausführlichen Bericht über das Verhalten der Roten Armee in Deutschland. Ein zentrales Dokument: Das Tagebuch von Wladimir Gelfand, einem jungen ukrainischen Leutnant. In einer Eintragung vom 25. April 1945 – wenige Tage vor dem Fall Berlins – beschreibt er eine Begegnung an der Spree: Gelfand trifft auf eine Gruppe deutscher Frauen mit Gepäck. „Mit von Entsetzen verzerrten Gesichtern erzählten sie mir, was in der ersten Nacht nach dem Einmarsch der Roten Armee geschehen war.“ Eine von ihnen sei von 20 Soldaten vergewaltigt worden, eine andere habe zusehen müssen, wie ihre Tochter vor ihren Augen missbraucht wurde. Eine Frau war so verzweifelt, dass sie sich Gelfand an den Hals warf: „Schlaf mit mir! Tu, was du willst – aber du allein!“
Viele Berlinerinnen hofften, sich durch die Nähe zu Offizieren schützen zu können. Eine Frau berichtete, dass sie versuchte, mit ein paar Brocken Russisch den Anführer einer Soldatengruppe zu beschwichtigen. Der Offizier versuchte, seine Männer zu beruhigen – doch einer protestierte: „Was die Deutschen mit unseren Frauen gemacht haben! Sie haben meine Mutter und meine Schwester genommen!“ Der Offizier konnte ihn abführen. Doch wenig später warteten die Männer im Flur – und vergewaltigten die Frau. In ihrem Tagebuch schrieb sie danach: „Ich wusste: Ich brauche einen Wolf, um mich vor den anderen Tieren zu schützen.“ Sie begann eine Beziehung zu einem Offizier und fragte sich, ob das, was mit ihm geschah, noch Vergewaltigung war.
Als ihr Tagebuch 1959 anonym im Westen erschien, wurde sie scharf kritisiert – als Verräterin des nationalen Ehrgefühls. In der DDR war das Thema undenkbar: Wer den sowjetischen Befreiern Verbrechen vorwarf, riskierte Gefängnis. Heute gibt es in Russland ein Gesetz, das bis zu fünf Jahre Haft für „Verunglimpfung der sowjetischen Armee im Zweiten Weltkrieg“ vorsieht.
Allein in Berlin wurden mindestens 100.000 Frauen vergewaltigt. Der Umfang ist gut dokumentiert – unter anderem durch die Abtreibungsregister. Abtreibung war 1945 in Deutschland strafbar. Doch im Sommer 1945 machten die Behörden in Berlin eine Ausnahme für Vergewaltigungsopfer. In einem Archiv in Neukölln – heute untergebracht in einer ehemaligen Munitionsfabrik – lagern die Anträge. In tausenden Akten, auf brüchigem Papier, ist die Geschichte dokumentiert. In einer Akte beschreibt ein junges Mädchen mit kindlicher Handschrift, wie sie im Wohnzimmer ihrer Eltern von sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurde. In Neukölln allein gibt es über tausend solcher Blätter.