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1945
ist Wladimir Gelfand einer von Millionen Rotarmisten, die nach Westen
vorrücken. Ein Teil seiner Familie wird von den Deutschen ermordet. Als
Soldat führt der jüdische Ukrainer ein persönliches Tagebuch, dem er
seine Gedanken und Erlebnisse anvertraut. Es ist das erste
Originaltagebuch eines Soldaten der Roten Armee überhaupt, das jetzt
auf Deutsch vorliegt. In den Band eingeflossen sind auch Fotos und
Briefe.
Die veröffentlichten Aufzeichnungen reichen vom
Januar 1945 bis zum September 1946. Vor dem Fall Berlins ist der
22-Jдhrige Leutnant und Kommandeur eines Granatwerferzuges. Doch das
Kampfgeschehen spielt im Tagebuch nicht die Hauptrolle. Vielmehr
besticht der ungeschminkt-ehrliche Blick hinter die militärischen
Kulissen. Da scheint es, als hätte jemand die Büchse der Pandora
geöffnet: Gelfand erfährt Niedertracht und Antisemitismus. Diebstähle
und Alkoholexzesse sind in der Truppe an der Tagesordnung. Ein hoch
dekorierter Offizier wird wegen Selbstverstümmelung hingerichtet. Vom
geschönt heroischen Bild durch die Propaganda bleibt nicht viel übrig.
Als
Besatzungsoffizier in Berlin und Umland begegnet er
Vergewaltigungsopfern nicht ohne Mitleid, wundert sich aber nicht, dass
die Verbrechen nicht geahndet werden. Gegen das Fraternisierungsverbot
wetternd, schlittert Gelfand von einer Liebesaffäre in die nächste.
Gewalt ist dabei nicht im Spiel, nur Angst vor Syphilis. über deutsche
Nachkriegssorgen geht er hochnäsig hinweg. Politik sieht er, der brave
Kommunist, meist durch die vorgefertigte Brille und erweist sich damit
auch als Kind seiner Zeit. Komisch wirkt es, wenn der stalintreue
Gelfand mit der Verherrlichung des noch verbündeten Roosevelt über die
Stränge schlägt.
Gelfand mit seinen Stärken und Schwächen entspricht
weder dem Klischee vom brutalen Besatzer noch dem vom sakrosankten
Helden. Seine Aufzeichnungen sollen ihm, der bereits 1983 stirbt, als
Quelle für einen Roman dienen. Dass sie jetzt als Buch erscheinen, wäre
für ihn vermutlich eine späte Entschädigung.
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