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"Ich
spucke auf Deutschland", ritzte der 22jährige Leutnant der Roten
Armee Wladimir Gelfand im August 1945 in die Ruinen des Berliner
Reichstages. Er hatte einen Krieg überlebt, in dem Millionen
seiner Kampfgefährten gefallen waren. Aber jetzt gehörte er
zu den Siegern. Leutnant Gelfand war jung, lebenshungrig; ein
selbstbewusster Besatzer. Bald sucht er nach Gelegenheiten, dem tristen
Kasernenleben zu entkommen. Gut aussehend, nie gewalttätig,
schließt er Bekanntschaften mit der Zivilbevölkerung.
Und er führt Tagebuch. Das darf er eigentlich nicht, aber die
Kommandeure lassen den eigensinnigen Leutnant gewähren. Seine
freimütigen Notizen belegen, dass die Begegnungen zwischen
Deutschen und sowjetischen Soldaten nicht nur von Hass, Missachtung und
Vergewaltigungen geprägt waren. Gelfand ist alles
Militärische zuwider, das strikte Verbot privaten Umgangs mit
Deutschen und selbständiger Erkundungen empört ihn. Er
erfüllt seine Pflicht als Mitarbeiter einer Transportabteilung der
Besatzungsmacht. Aber nach dem mörderischen Kampf im Krieg will er
endlich "Freiheit! Die Freiheit zu leben, zu denken, zu arbeiten, das
Leben zu genießen."
Sein Sohn, Vitali Gelfand, fand im Nachlass des Vaters die
Tagebuchaufzeichnungen, die jetzt im Aufbau – Verlag erscheinen.
Das „Deutschland-Tagebuch“ von Wladimir Gelfand zeigt das
Jahr 1945 jenseits der Perspektive von Generalsmemoiren und jenseits
der andauernden Selbstbeschäftigung mit der Endzeitstimmung eines
Führerbunkers. Es zeigt ganz unmittelbar die Wahrnehmung der
geschlagenen Deutschen durch einen Rotarmisten.
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„ Ja, er hat sich als Sieger gefühlt. Er hat die Deutschen
gehasst. Sie haben während des Krieges einen Teil seiner Familie
umgebracht. Sie waren ukrainische Juden. Aber als er dann Deutschland
gesehen hat, waren die Deutschen nicht mehr nur alle Nazis für
ihn. Er war neugierig und wollte etwas erleben.“ (Vitali Gelfand/
Sohn)
Wladimir Gelfand besorgt sich ein Fahrrad und lernt Fahrrad fahren. Er
schaut sich die öden Häuserskelette in Berlin an, er geht auf
den Schwarzmarkt und kauft sich einen Fotoapparat. Auf den Fotografien
inszeniert er sich als selbstbewussten Kriegshelden. Mit einigem
Erstaunen liest man, wie selbstverständlich sich der sowjetische
Besatzungssoldat durch das zerstörte Berlin bewegt. Er träumt
von der Liebe und ´sei es zu einem deutschen Mädchen´,
notiert er. Der gut aussehende Rotarmist komplimentiert sich in die
einsamen deutschen Schlafstuben. Im Oktober 1945 schreibt er ganz
unbekümmert ins Tagebuch: „Ihre Mutter ist mit mir
zufrieden. Schließlich hatte ich Lebensmittel,
Süßigkeiten und Butter, mitgebracht. Genug, um mit der
Tochter alles Erdenkliche anzustellen.
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An
anderer Stelle ist er erschüttert über das Verhalten manch
seiner Kameraden. Vergewaltigungen prägen bis heute die Erinnerung
an die Eroberer:
„Natürlich hatte ich Angst. Da denk ich an den
Erlkönig: „Und bist Du nicht willig, so brauch` ich
Gewalt.“ Und die Gewalt fand in Form eines Revolvers statt, der
auf mich gehalten wurde. Ich konnte nichts machen. Ich habe aber auch
Feldküchen auf der Straße gesehen, wo die Russen Kinder
versorgten. Das war die andere Seite.“ (Annegret Schneider/
Zeitzeugin)
Die Tagebücher belegen diese Erfahrung. Gelfand befürchtet:
„dass man uns für gutherzige und zugleich grobe und wilde
Menschen hält“.
Als Anfang August 1945 persönliche Kontakte zu Deutschen verboten
werden, fährt er mit seinem Fahrrad weiterhin seine
Bekanntschaften besuchen. Das Fahrrad ist gekauft, nicht geklaut,
darauf legt er Wert. Dem gut aussehenden, etwas selbstverliebten jungen
Leutnant ist die Aufmerksamkeit vieler deutscher Frauen sicher. Wie
selbstverständlich Liebesbeziehungen zwischen Siegern und
Besiegten auch im Osten sein konnten, spricht aus Gelfands
Tagebüchern und den Briefen an ihn.
„Er hat nach dem Krieg einmal geschrieben, seine
größte Liebe, und auch sie hat ihn geliebt, war die zu einer
Deutschen. Margot hieß sie. Und er war verzweifelt darüber,
warum er nicht den Mut hatte, mit ihr in Verbindung zu bleiben.“
(Vitali Gelfand/ Sohn)
Gelfands Aufzeichnungen zeigen einen an Deutschland interessierten und
sehr unternehmungsfreudigen Besatzer. Der adrette Leutnant liebt
Friseurbesuche. Dabei macht er so seine Beobachtungen: „Die
Deutschen sind geizig. Niemals schenken sie etwas, ohne einen doppelten
Nutzen für sich“, schreibt er. Einmal wird er gefragt, ob
Deutschland wieder groß und stark werde. Der Leutnant ist
überrascht, ob des zynischen Gedankens.
Im September 1946 kehrt Gelfand schließlich nach Russland zurück.
Gelfands „Deutschland – Tagebuch“ zeigt das Jahr 1945
ohne heroisierende Kriegserinnerungen. Was es interessant macht, ist
der authentische Blick von der anderen Seite der Front. Eine ungewohnte
Perspektive.
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