Erinnerungen sowjetischer Besatzungssoldaten an den ostdeutschen Nachkriegsalltag 1945–1949Aus dem Buch Erinnerung an Diktatur und Krieg
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In Russland haben neue Themen das öffentliche Gedächtnis an den Krieg erfasst.
Themen wie die Schicksale von Ostarbeitern, Kriegsgefangenen und Angehörigen von
Strafeinheiten erschüttern die traditionell-patriotische Rückschau, deren iden- titätsstiftender Kern nach wie vor der Gedanke an die Opfer und den Sieg im Gro- ßen Vaterländischen Krieg gegen Deutschland ist. Doch obgleich
Korrekturen am lange dominierenden Geschichtsbild
zweifellos nötig sind und es weithin aner- kannte
Beweggründe gibt, zum Beispiel einzelne Entscheidungen sowjetischer Militärs
kritisch zu bewerten, die Haltung des sowjetischen Staates
zur Masse an
In dieses kommunikative Gedächtnis an den Krieg hatte die unmittelbare Nach- kriegszeit als entbehrungsreiche Rückkehr in einen friedlichen Alltag früh Eingang gefunden. Es fällt aber auf, dass der Erinnerungstopos Nachkriegsdeutschland für die Sieger bald schon weitgehend ins Dunkel geriet. Während der Siegesrausch im öffentlichen Gedächtnis kultiviert wurde, sind Erinnerungen an die folgenden Ge- schehnisse im Besatzeralltag auf erobertem Gebiet als öffentlich geteilte Erfahrung bis heute sehr rar, obgleich diese Erfahrung als eine Massenerfahrung gelten kann. Bei denen, die keine eigenen Erlebnisse dort hatten, ist das Bild von der sowje- tischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) 1945 bis 1949 unter allen Topoi des kommunikativen Nachkriegsgedächtnisses besonders grob gerastert, politisch überzeichnet, klischeehaft. Regelrecht verkümmert scheint die Erinnerung aber auch bei den Akteuren von damals. Mögliche Ursachen für die „weißen Flecken“ sind verschiedentlich erörtert worden. Die Rolle der staatlichen Zensur betonend, erklärten sich Historiker das blasse, defizitäre öffentliche InSpracheSetzen dieser Erfahrung vor allem mit politischen Erwägungen der sowjetischen Führung und ihrer direkten Einflussnahme auf Medien und Kunst. Es wird argumentiert, es sei aus der Sicht der Herrschenden gefährlich gewesen, die Besatzererfahrung wach zu halten, denn es wären Erlebnisse mit offenen, kulturvollen, reichen Zivilisatio- nen gewesen, die die stalinistischen Strukturen in der UdSSR hätten in Frage stel- len können (These von den „Neodekabristen“).1 Diese These wird – direkt oder Wer die (ost)deutsche Literatur der Nachwendezeit in ihrem Bemühen um eine realistische öffentliche Erinnerung an Kriegsende und Nachkriegszeit verfolgt hat, wird nicht umhin können einzugestehen, wie schwierig eine ausgewogene Beur- teilung des sowjetischen Besatzers noch immer ist. Einseitiger, prosowjetischer Lobpreisung wurden – selbst in einigen wissenschaftlich ambitionierten Studien – nicht bloß eben anders einseitige, sondern gelegentlich auch bedenklich russopho- be Bilder mit argumentativen Anleihen aus NS-Arsenalen entgegengestellt.3 Wie die Publikationen von Silke Satjukow zeigen, ist dem kein noch so theorieschwe- rer kulturologischer Ansatz gewachsen, wenn er nicht zugleich soziologisch er- weitert wird und mit entsprechenden Quellen überzeugend umgesetzt werden kann.4 Alte Memoiren
– neue Forschungsfragen
Für eine gemeinsame deutsch-russische Erinnerung ist diese Unterbelichtung der Besatzungszeit im sowjetischen und postsowjetischen Gedächtnis sehr bedauerlich. Die unmittelbare Nachkriegszeit war nämlich – auf der anderen, der deutschen Seite der Begegnung – für lange Zeit die Phase der intensivsten persönlichen Er Die Geschichte der weitgehenden Ausblendung des sowjetischen Besatzererleb- nisses aus der öffentlichen Rückschau in der UdSSR und im heutigen Russland wäre eine eigene Studie wert, die auf Zensurregelungen und politische Maßgaben eingehen, ideologische Argumentationen und Selbstbeschränkungen, aber gewiss auch einen hinlänglich tradierten alltäglichen Umgang mit Auslandserlebnissen in Rechnung stellen müsste. Für eine solche Forschung sind die Voraussetzungen nicht gegeben. Hier sei fürs erste bei der Beobachtung angesetzt, dass, wie jüngste Zeitzeugenbefragungen belegen, vom eroberten und befreiten Deutschland doch einiges in der persönlichen Erinnerung der damaligen Besatzer gespeichert blieb. Da erstaunt zunächst die Präsenz von Namen kleinerer Städte und Flüsse, die genaue Beschreibung fremder Landschaften, Architektur und Infrastruktur. In der Regel wird beeindruckender materieller Wohlstand erinnert. Aufrufbar sind auf Anhieb fremde Alltagsgegenstände (Arbeitsmittel, Kleidungsstücke), Arbeits- kommandos, Grußformeln, Namen. Auch Exotisches blieb im Gedächtnis: „Gibt es in Deutschland noch dieses Gemüse mit Namen Kohlrabi?“, fragte mich 1979 ein 1946 bei Halle stationierter Soldat. 33 Jahre nach seiner Rückkehr auf die hei- matliche Krim war ich die erste Deutsche, die ihm begegnete. Derlei ist aus den Erinnerungen von Ostarbeitern bekannt, die in der Regel etwa gleichlang in Deutschland lebten – im einzelnen mit unterschiedlich großem Bewegungsfrei- raum, eben wie die sowjetischen Besatzer später. Wollte man jedoch nach kom- plexeren Bildern suchen, bedürfte es längerer Gespräche, die Fragen nach der eigenen Identität einschlössen: Als was für ein Land blieb Deutschland, als was für Menschen blieben die Deutschen in Erinnerung; was unterschied sie vom eigenen Die Untersuchung von persönlicher Besatzererfahrung, so wie sie sich in auto- biografischen Selbstzeugnissen widerspiegeln könnte, stößt an einen eklatanten Quellenmangel. Hauptursache ist die erwähnte Leerstelle in der sowjetischen Er- innerungskultur, die schriftlich publizierte Memoiren bis heute in einer über- schaubaren Anzahl hält.5 Sowjetische Memoiren über Erlebnisse in der Sowjeti- schen Besatzungszone (SBZ) fanden in der DDR größere Verbreitung als in der Sowjetunion selbst, das meiste in Zeitungen, Zeitschriften und Heimatheften. Sie untermauerten alle das legendäre Freundschaftsverhältnis des neu entstandenen Staatenbündnisses DDR-UdSSR. Aus mit der Besatzungsmacht geteilten politi- schen Erwägungen ließ die SED negative Bilder von „den Freunden“, wie sie um Den Niederungen des Besatzungsalltags schenkten sie ohnehin nicht die vom Sozialhistoriker gewünschte Beachtung. Solche Memoiren belegen ein individuel- les (genauer: ein politisch zensiertes individuelles) Gedächtnis politischer und geisteswissenschaftlicher Eliten, nicht aber das kollektive Gedächtnis „der Besat- zer“. Es waren einzelne vormalig höhere Offiziere und leitende SMAD-Funktionä- re, denen von der sowjetischen Führung erlaubt wurde, Erinnerungen zu publi- zieren.7 Kern der Erzählungen war der Gedanke an den gemeinsamen schweren Anfang, einen von kommunistischer Politik geführten Neubeginn im Osten Deutschlands, für den man ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten als Grundlage ansah; es sollte sich quasi aus dem kommunistisch- internationalistischen Verhältnis heraus auf die (ost)deutsche Gesellschaft aus- breiten. Bei den Motiven für solches Erinnern kann von einer Symbiose aus staat- lichem Bildungsauftrag und politischer Überzeugung ausgegangen werden, die bis in die Zeit nach 1991 hinein Früchte trug.8 Diese politische Aufgabe der Rück- schau wurde erst recht von jenen vormaligen Vertretern der SMAD mitgetragen, die in der Heimat die geisteswissenschaftlichen Paradigmen professionell mittru- gen (Alexander Dymšic, Sergej Tjulpanov, Aleksandr Galkin, Jakov Drabkin, Va Der historische Hintergrund, Dimensionen der Begegnung
Dafür bieten die Archive Material aus der Hinterlassenschaft der Besatzungsbe- hörde.9 Für eine noch unbestimmte Zeit militärischer Besetzung hatte die östliche Sie- germacht im Sommer 1945 auf ihrem Besatzungsgebiet ein dichtes Netz von Kommandanturen installiert.10 Jede deutsche Gemeinde mit mehr als 5000 Ein- wohnern erhielt einen solchen Stützpunkt mit regulär 17 bis 40 Mitarbeitern. Er hatte eine eigene Schutztruppe, die unabhängig von den stationierten Armeen befehligt wurde. Während die 1945/46 zunächst rund 700 000 und später rund 350 000 Besatzungssoldaten in den Garnisonen für die allermeisten Deutschen ge- sichts- und namenlos blieben, standen die insgesamt 70 000–80 000 Soldaten und Mitarbeiter der Kommandanturen den Deutschen leibhaftig und sehr markant vor Augen. Sie hatten umgekehrt den direkten Blick auf die Deutschen: am Ein- gang und auf dem Gelände der Kommandantur, auf Patrouillen, an Schlagbäumen und auf Wachen, als marschierende Truppe in der Stadt, auf Rangierbahnhöfen, bei Zugkontrollen und Razzien, verhandelnd und inspizierend in Betrieben und Transportunternehmen, an Sammelstellen für Agrarprodukte, bei Räumungsein- sätzen, auf Polizeidienststellen. Außerhalb des Dienstes bewegten sie sich auf Stra- ßen, in Geschäften und Bierstuben, in Kinos, an Badestellen, in Parks und Sportsta- dien. Krankenhäuser und Sanatorien betrieben die Besatzer getrennt von deutschen Patienten, doch die Versorgung dort oblag deutschen Arbeitskräften. Wohnraum musste ihnen auf Verlangen freigemacht werden. Die Kommandanturen waren militärisch gesicherte Festungen im Stadtbild, zugleich wichtigste Behörden mit zunächst vielen bürokratischen Alleinkompe- tenzen. Sie stellten einen Objektschutz vor die zahlreichen Besatzungseinrichtun Die Kommandanturen wirkten als Scharniere der Besatzungsherrschaft. Es gab Kreiskommandanturen in drei verschiedenen Größenordnungen, kleinere Ab- schnittskommandanturen (učastkovye), kreisfrei geführte Stadtkommandantu- ren, in großen Städten zusätzlich Stadtbezirkskommandanturen. Zeitweise exis- tierten übergeordnete Bezirkskommandanturen, Ende 1945 bestand das Netz aus insgesamt rund 650 Kommandanturen. Ihre Anzahl unterlag Reorganisationen und einer starken Reduzierung auf 342 (1946), 247 (1947) und 178 (1948) Kom- mandanturen, bis sie schließlich 1949 fast alle aufgelöst wurden. Zur Vervollständigung des Kontextes muss gesagt werden, dass noch eine Viel- zahl von kleineren, teils mobilen sowjetischen Einrichtungen bestand: Funkver- bindungsstellen, interne Post- und Bankfilialen, Hotels, Werkstätten, Krankenhäu- ser, Materiallager, Eisenbahn- und Hafen-Kontrollstellen, Demontagetrupps, Fil- trierungslager. Nicht zu vergessen die interalliierten Institutionen in Berlin, wo sowjetische Vertreter ein- und ausgingen. Hinzu kamen die Standorte der politi- schen Verfolgung wie Speziallager, Smersch-, NKVD(MVD)- und NKGB(MGB)- Filialen. Die wohl deutlichste Spur in der deutschen Wahrnehmung hinterließen die Kreiskommandanturen. Deren erste Belegung war natürlich noch Folge des Kriegs- verlaufs und der nachfolgenden Truppendislozierung. Die Bernauer Kreiskom- mandantur hatte beispielsweise im Sommer 1945 1 073 Mann (158 Offiziere, 239 Sergeanten, 676 Soldaten), die zum Sommer 1948 zahlenmäßig auf ein Achtel schrumpften: 137 Mann (32 Offiziere, 25 Sergeanten, 80 Soldaten). Die Kreis- kommandantur in Döbeln/Sachsen bestand im Januar 1948 aus rund 85 Mitar- beitern, darunter etwa 30 Offiziere und Sergeanten. Noch 1945 wurden im Zuge der allgemeinen Demobilisierung in zwei Schritten 14 000 Mann aus dem SMAD- und Kommandantur-Personal in die Heimat entlassen, zuerst die stark Versehrten und die ältesten Jahrgänge, dann die Jahr- gänge 1906–1915 sowie Hoch- und Fachschulabsolventen, Lehrer und Studenten der letzten Studienjahre, auch Männer, die Verwundungen erlitten hatten, Län- gerdienende, und sämtliche Frauen der unteren Dienstgrade. Ab März 1946 wur- den die Jahrgänge 1916–1922, insgesamt rund 8000 Mann, und im März 1947 Das kündet von einer beeindruckenden Dimension persönlicher und kollektiver Wahrnehmung des deutschen Nachkriegslebens durch Vertreter der Siegermacht. Zu den Erfahrungen gerade der Kommandantur-Besatzungen gehörte die Wahr- nehmung aller möglichen alltäglichen Konflikte zwischen Besatzern und Besetz- ten. Denn die Kommandanturen hatten sämtliche sowjetische Militärangehörige und Zivilisten der Region im Blick, die sich in die zivile Welt der besetzten Deut- schen hineinbegaben, d. h. den engen Dienstraum einer Kaserne/Militäreinheit verließen. Als polizeiliche Behörde erfassten sie außerordentliche Vorkommnisse jeder Art, nahmen Beschwerden der Deutschen entgegen, reagierten auf Ruhestö- rung, Feueralarm, politische Warnungen. Sie registrierten Versorgungsmissstände, Verkehrsunfälle, Havarien, Epidemien… ob nun Deutsche oder sowjetische Mili- tärangehörige, Zivilangestellte oder Fremdarbeiter, westalliierte Abordnungen oder Displaced Persons involviert waren. Auf diese Weise waren die Mitarbeiter der Kommandanturen besondere Beobachter und Protokolleure deutsch-sowjetischer Nachkriegsbegegnungen. Diese umfassten neben den dienstlichen Begegnungen natürlich auch private. Freundschafts- und Liebesverhältnisse gab es allerorts. Intime Partnerschaften wurden gelebt, Ehen geplant, private Reisen inkognito unternommen, gemeinsa- me Fluchtszenarien in den Westen entworfen und teils auch umgesetzt. Man traf sich in Parks, Kinos oder Wohnungen von Freunden. In Einzelfällen entstanden kurzzeitig regelrechte Familienbande. Private Lebenswelten
Der idealtypische Besatzungssoldat lässt sich vorerst nicht rekonstruieren. Aus Archivakten der Besatzungsbehörde wissen wir dennoch schon einiges, zum Bei- spiel, dass ihre Soldaten und Offiziere in der Mehrzahl Kriegsteilnehmer waren. Der Nationalität nach waren die meisten Russen. Dienstränge lassen sich bestimmten Altersgruppen nicht genau zuordnen, doch Statistiken belegen, dass die unteren Ränge (Soldaten, Sergeanten) bald fast nur noch von sehr jungen Män- nern eingenommen wurden; als Folge des Krieges waren aber auch die Offiziers- posten insgesamt von recht jungen Männern ohne zivilen Beruf besetzt. Kaum Luxus gewohnt, hatten die meisten weit mehr Geld zur Verfügung als zu Hause, höhere Offizier und Generale waren hochentlohnt. Radios, Autos, Motorräder, Es ist schwierig, das Konsumverhalten der Männer zu rekonstruieren. Vieles erwarben sie entgeltlich in speziellen Warenlagern, in die Deutsche keinen Ein- blick hatten. Wir wissen von Containertransporten für Generalsfamilien, dem stehen Bilder von Demobilisierten mit kleinem Köfferchen entgegen. Überhaupt kann anhand der Akten schwerlich über Lebensziele und Werte geurteilt, geschweige denn ein Zusammenhang zu sozialen und kulturellen Dispositionen hergestellt werden. Mehr wissen wir über Freizeitinteressen, bei deren Steuerung die Besat- zungsbehörde ab etwa 1946 recht energisch vorging. Beliebt waren Sport und Kino. Hier wie auch in anderen Dingen verhielten sich Familien natürlich anders als junge Alleinstehende. Ende 1945 erhielten Offiziere und Generale die Erlaubnis, ihre Angehörigen nach Deutschland zu holen, Ehefrauen und Kinder wurden über das Militärver- sorgungssystem mit bedacht. Frauen reisten auch illegal in Deutschland ein bzw. ihren „Frontmännern“ hinterher. 1946 versuchte man in der UdSSR – insbeson- dere um Ordnung in die staatliche Fürsorge zu bekommen – gegen nicht regis- trierte Partnerschaften vorzugehen, die von nun an als illegale galten. Nur die staatlich sanktionierte Ehe wurde anerkannt und machte Frauen versorgungs- würdig. In der SBZ wurde ein Datum im Sommer 1946 gesetzt, bis zu dem gehei- ratet sein musste, oder die Partnerin und sowjetische Staatsbürgerin hatte Deutschland zu verlassen. Anfang 1947 klangen die Nachreisen der Angehörigen (bei höheren Generalen waren das oft auch erwachsene Kinder, Schwestern und Schwägerinnen, Schwiegermütter, gar Enkel, die ernährt werden mussten) aus. Es wurden dann auch für Posten auf der mittleren Ebene nur noch gezielt ledige Männer nach Deutschland geholt. Bis 1953 blieb das Nachreisen von Angehöri- gen untersagt. Solche Restriktionen waren vermutlich der Einsicht geschuldet, dass die Frauen und Kinder ihrer höheren Offiziere und Generale der Besatzungsbehörde zusätzli- che Bildungs- und medizinische Leistungen abverlangten, wobei sich die meisten Frauen keinesfalls mit eigenem Beschäftigungsinteresse zu engagieren gedachten. Im Gegenteil, viele von ihnen waren für bürgerliche Rollenzuschreibungen in der Familie sehr empfänglich. Zugleich wirkte die Anwesenheit der Ehefrauen nicht in jedem Fall wirklich harmonisierend. Im Gegenteil, ohne das gewohnte gesellschaft- liche Umfeld und die großfamiliären Beschwichtigungshilfen zerbrach manch eine vom Krieg belastete Partnerschaft gerade in der Fremde. Schließlich wurden für die Frauen besondere Beschäftigungs- und Bildungsprogramme erarbeitet.
Die Masse der
Besatzer-Männer war jedoch jung und unverheiratet und hatte Liebes- und Sexualerfahrungen auch erst im Krieg gemacht. Beziehungen zu deut- schen Frauen, dauerhafte und auch
flüchtige bzw. bezahlte waren fast schon die
Norm. Oft waren solche Kontakte an Tauschbeziehungen gebunden, denn im deutschen Alltag wurde überall
„organisiert“ und „verscherbelt“. Bis Mitte 1946 wurde gegen private Beziehungen nicht konsequent vorgegangen,
obgleich sie klar verboten waren. Deutsche machten sich zwar strafbar, wenn sie
ungenehmigt Übernachtung
boten. Doch – mit oder ohne Übernachtung – die Rotarmisten lebten
die ostdeutsche „Nachkriegsgesellschaft“ aktiv mit und ersetzten zum
Teil die fehlenden jungen männlichen Familienmitglieder und Sexualpartner der Deutschen. Erst mit der Konzentration der Besatzereinrichtungen und der wohn-
lichen Einbindung aller SMAD- und Kommandanturmitarbeiter in
abgeriegelte Wohnstädtchen ab Sommer
1947 wurden die Privatkontakte merklich einge-
schränkt. Disziplinarstrafen, die dann auch bald auf den politischen
Argumenten des Kalten Krieges
aufbauten, begannen zu greifen. Gezielte Strafversetzung tat das übrige. Restlos
unterbunden wurden private Kontakte aber nie.
Wir wissen aus den Akten, dass der Dienstablauf in den Kommandanturen for- mell überall gleich war: gleiche Dienst-, Rang- und Tagesordnungen, gleiche mili- tärische Grundausbildung, Übungen, Politveranstaltungen, Freizeitangebote. Wie auch zu Hause war das Dienstleben natürlich von den Lokalbedingungen gefärbt, waren die konkreten Aufgaben der Besatzungseinrichtungen im sozialen und Wirtschaftsbereich von den örtlichen Profilen geprägt. Die Berichte verdeutlichen jedoch, wie stark die Dienstumstände zugleich von den sowjetischen Leiterpersön- lichkeiten abhingen. 1945/46 waren viele Stadt- und Kreiskommandanten geistig, politisch, organisatorisch und mental stark überfordert mit der Lenkung eines mittelgroßen Verwaltungsraumes im fremden Nachkriegschaos. Sie konnten ihr Amt nur einigermaßen erfolgreich ausfüllen, wenn sie im Führen ihrer kleinen Truppe halbwegs erfahren und wenn sie selbst als Autorität anerkannt waren. Des Weiteren scheint es ein Nord-Süd-Gefälle in der Konfliktanreicherung gegeben zu haben, das wesentlich (aber nicht ausschließlich) aus den Geschehnissen bei Kriegs- ende folgte. Während Sachsen und Thüringen vergleichsweise konfliktarme Re- gionen bildeten, waren Berlin, Brandenburg und Mecklenburg/Vorpommern von anhaltenden Spannungen im Besatzeralltag geprägt. Hier hatten die alltäglichen Reibereien zwischen Besatzern und Besetzten größere Dimensionen, und hier hielt sich auch unter den Deutschen ein deutlich schwärzeres Russenbild als im Süden der späteren DDR. Gerade in den Gebieten mit vielen Zerstörungen und Zivilopfern richteten sich im Sommer 1945 auch noch Truppen ein, die (1.) noch mehrmals umgesetzt wurden, (2.) die Region wegen der geografischen Gegeben- heiten häufig für Manöver und Übungen nutzten, und wo (3.) die Soldaten durch die Abgeschiedenheit der Stationierungsorte zu illegalen Raubzügen regelrecht er- muntert wurden. Hinzu kommt, dass die nördlichen ländlichen Regionen 1945/46 zuerst als Getreide- und Viehrequirierungsregionen und dann auch als Schwer- punktgebiete der Bodenreform genau jene Gebiete waren, wo elementare deut- sche Interessen und sowjetische Interessen hart aufeinander stießen. Hier artikulierten sich antisowjetische Stimmungen deshalb deutlicher. Berlin bündelte mit seinem besonderen Status am Beginn der Systemkonfrontation die Konflikte na- türlich in besonderem Maße. Die Erfahrungen eines Besatzungssoldaten hingen also in mehrfacher Hinsicht auch vom Einsatzort ab. Die Fragen nach Mentalität, Selbstwertgefühl, Siegerbewusstsein sind natürlich am schwierigsten aus den Akten heraus zu synthetisieren. Aus Behördendokumen- ten schlagen uns ja vor allem negativ auffällige Verhaltensweisen entgegen, wobei eine befriedigende Gesamtstatistik, etwa über Disziplinverstöße, bislang nicht zu erstellen ist. Interna sprechen von rund 17% aller Militärdienstleistenden in Deutschland, die 1947 negativ auffielen, doch das Repertoire reichte von Verstö- ßen gegen die Kleiderordnung über die heimliche Benutzung des PKW des Chefs und Besuche in deutschen Restaurants bis hin zu unerlaubtem Fehlen und Ran- dale. Und wie viel blieb da unentdeckt und unbeschrieben? Das Ausmaß der De- sertionen ist aus den zugänglichen Akten bislang nicht herauszulesen. Erzählverhalten
Anhand von Archivquellen lassen sich also wichtige Aussagen zum Besatzeralltag treffen, subjektive Erfahrungen reflektieren sie aber kaum. Hier stellt sich natürlich die Frage nach den Möglichkeiten von Zeitzeugeninterviews. In Russland noch weitgehend ohne Lobby, leuchten „Besatzerberichte von unten“ dort nur hin und wieder auf, etwa in Zeugnissen vormaliger sowjetischer Kriegsgefangener. Ein nicht unerheblicher Teil von ihnen setzte nämlich nach dem Mai 1945 seinen re- gulären Wehrdienst in der SBZ fort. So erinnerte sich ein Kriegsveteran an die Zeit nach der Befreiung aus deutscher Gefangenschaft: Ich marschierte durch Berlin, über den Alexanderplatz. Ich habe die von den amerikanischen Barbaren in Schutt und Asche gelegte Stadt gesehen. Wir wohnten bei einer alten Frau, deren Sohn in Norwegen gefallen war. Sie schenkte uns sein Fernglas, wir gaben ihr Lebensmittel. Die Berliner hungerten, wenn die Streitkräfte auch halfen, wie sie konnten. Unsere Einheit war in Eberswalde stationiert, später in Bredereiche [Fürstenberg/Havel] und anderswo. Ich kann mich an eine Edith Jürgens aus Eberswalde erinnern, an Anna Hornung aus Bredereiche und an viele andere Deutsche, die uns gegenüber freundlich gesinnt waren. Als ich [nach einer Verwundung kurz vor Kriegsende] in die Einheit zurückkehrte, schenkten mir meine Freunde ein Akkordeon. In unserer Freizeit trafen wir uns mit den deutschen jungen Leuten zum Feiern im Café. Ich spielte unsere Lieder und Tänze. Besonders begeistert waren alle von den Strauss-Walzern und Tiroler Walzern.11 Diese auf deutsche Anfrage schriftlich formulierte und ohne speziellen Auftrag zeitlich über die Kriegsgefangenschaft hinausgreifende Erinnerung demonstriert das alltagsgeschichtliche Potenzial überkommener Bilder und richtet unser Augen- merk zugleich auf die Prägekraft emotionaler Erfahrungen. Derlei gilt es zu er- gründen, wobei Elite-Memoiren als Stichwortgeber und Vergleichsfolie genutzt Barbara Stelzl-Marx stützt sich in ihrer fulminanten Analyse der „Innensicht der sowjetischen Besatzung“ Österreichs auf sehr viele Interviews. Sie entstanden 2002 bis 2008 vor allem in Moskau. Stelz-Marx nutzt sie, um der Frage nach subjektiver Gewichtung und Verdrängung, Verklärung und Mythologisierung der Erinnerung nachzugehen.15 Im Ergebnis werden Befunde vorgelegt, die die Unternehmung „Interview“ ein wenig in Zweifel ziehen, denn die Beobachtungen reduzieren sich auf Folgendes: 1. Die Zeitzeugen reflektieren ihre Zeit im besetzten Österreich meist als bedeutsamen Lebensabschnitt mit aufregenden Begegnungen und Er- kundungen im Ausland. 2. Sie bedienen sich häufig gängiger Klischees zur Benen- nung ihres Haupteindrucks von den Menschen dort, nämlich Stereotype zur Cha- rakterisierung deutscher Nationaleigenschaften: Sauberkeit, Ordnung, Disziplin, Wohlerzogenheit, Fleiß. 3. Sehr häufig wird erinnert, welche modernen Waren dort zum ersten Mal gesehen und genutzt wurden. 4. Während relativ gelassen berichtet wird, dass und wie viele Besatzer geplündert haben (wobei sich die Zeitzeugen selbst in der Regel ausnehmen), wofür persönliche Opfer oder die allgemeine Ver- rohung im Krieg als Ursache genannt werden, werden Vergewaltigungen nicht er- innert bzw. wird sogar vehement ausgeschlossen, dass es sie gegeben hat. Stelzl- Marx spricht dabei von Tabuisierung. 5. Vergleichsweise offen gehen auf Übergrif- fe nur solche Zeitzeugen ein, die nicht Mitglieder von Veteranenkomitees sind. Einzig der letzte Befund zeigt den Ansatz einer quellengemäß narratologisch- historiografischen Auswertung, weil er Geschehnis, Gedächtnis, Lebenserfahrung und Jetztbefindlichkeit in Beziehung zueinander setzt. Das übrige ist Wiederho- lung von bereits Ermitteltem, Illustration (zur Beweisführung ist Oral History bekanntlich ungeeignet) einer Vorabmeinung, weil nicht als Entdeckungsreise in subjektive Orientierung angelegt. Es steht zu befürchten, dass wenig getan wurde, Lassen wir die Frage beiseite, ob das beeindruckende Erlebnis einer reichen, gut organisierten Gesellschaft mit beachtlichem Durchschnittswohlstand immer (und wenn nicht, ob dann für Erlebnisse in Deutschland und Österreich im Jahr 1945) den Terminus „Kulturschock“ rechtfertigt, dann bleibt doch festzustellen, dass die- ser Eindruck in einen Komplex von Fragen zu individueller und kollektiver Sinn- gebung damals, zwischenzeitlich und heute gestellt werden müsste. Insgesamt dür- fen Analysen von Erzählverhalten nicht bei der Diagnose „Ideologisierung“ und „Tabuisierungen“ stehen bleiben. Interviews mit Kriegsteilnehmern, die im besetzten Deutschland weiter gedient hatten16, geben zuallererst zu erkennen, dass das Erzählen über den Krieg leichter fällt als das Erzählen über die Besatzungszeit. Es fehlt den Zeitzeugen nicht etwa an Worten oder Bildern, sondern einfach an Übung und an Instinkt dafür, was denn aus dieser Zeit zu erzählen interessant und wichtig wäre. Das bestätigt ein übriges Mal die Einschätzung, wonach Gedächtnis nicht so sehr von der Tiefe des Eindrucks als vielmehr von seiner wiederholten (auch wandelbaren) Sinnzuschrei- bung beim Kommunizieren geformt wird. Es wird weder ohne Anlass noch zweck- frei erinnert und erzählt. Menschen tun das in dem Maße und in solchen Bildern, wie es zu gebrauchen ist, schreibt der Soziologe Harald Welzer.17 Die Zeitzeugen- aussagen künden also zunächst von einem lange Zeit auch privat kaum kommu- nizierten Gedächtnis. Dessen Dürftigkeit ist keinesfalls allein auf politischen Druck zurückzuführen, sondern vor allem darauf, dass diese Erinnerung lange Jahrzehn- te nicht gebraucht worden war. Wenn wir hier also von einer vergleichsweise beschränkten „narrativen Kompe- tenz“ sprechen müssen (die während eines Interviews von Intellektuellen durch rasche geistige Orientierung unter Umständen wettgemacht werden kann), was sagt das über die Möglichkeiten aus, anhand solcher Interviews „die Erlebens- und Handelnshorizonte vergangener Gesellschaftssysteme zu rekonstruieren“ (Albrecht Lehmann)18? Es erlegt uns sehr sorgsame, kritische Interpretation auf, wobei ge- gebenenfalls die besondere Schwierigkeit bikultureller Dialoge bedacht sein will. Der politisch sensible Zeitzeuge erfährt in Russland heute, dass eine öffentliche Wortmeldung zu Besatzungserlebnissen fasst immer zur Problematik der Gewalt |
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1 Die These fand in verschiedenen Einfärbungen
Verbreitung in der jüngeren russischen Ge- schichtsschreibung.
Eine extreme Position vertraten Gennadij Bordjugov und Aleksandr Afa- nas’ev
1990. Siehe dies.:
Ukradennaja pobeda. In: Komsomol’skaja Pravda
vom 5. Mai 1990, S. 1–2. Dagegen vgl. E[lke] Šerstjanoj: „Neodekabristy“? K probleme
reformatorskogo poten- ciala v sovetskom poslevoennom obščestve: M.V. Kirčanov
(red.): Germanija: istorija
i sovre- mennost’. Sb. st. pamjati prof. V.A. Artemova. Č. 1. Voronež 2006, S. 166–176.
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