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BUCHBESPRECHUNGEN |
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Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945-1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten. Aus dem Russ. von Anja Lutter und Hartmut Schröder. Aus-gew. und komm, von Elke Scherstjanoi, Berlin: Aufbau-Verl. 2005, 357 S., EUR 22,90 [ISBN 3-351-02596-3] |
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Die Soldaten der
Roten Armee wurden 1945 in
Deutschland nicht als Befreier
begrüßt. Viele Deutsche erlebten die Rotarmisten als
zügellose Soldateska, die sich an Frauen vergingen, mordeten und
plünderten. Diese Erfahrungen haben das Bild von den
sowjetischen Streitkräften im Bewusstsein
der deutschen Öffentlichkeit nachhaltig
geprägt. Wie sah es aber in diesen Menschen aus, die im Frühjahr 1945 nach Deutschland kamen? Waren es ideologisch geprägte Soldaten, waren sie davon beseelt, Rache zu nehmen für die Verbrechen, die Deutsche in ihrem Land zwischen 1941 und 1944 verübt hatten? Der Aufbau-Verlag legt nun die Tagebücher eines russischen Offiziers vor, der 1945/46 in der Umgebung Berlins stationiert war. Die Aufzeichnungen Wladimir Gelfands beginnen im Januar 1945 mit der russischen Offensive an der Weichsel und enden im September 1946. Eingeleitet und abschließend kommentiert werden sie von Elke Scherstjanoi, die in ihrem Schlussessay kurz das weitere Leben von Gel-fand skizziert. Zu Beginn verspricht sie: »So weit konnten wir noch nie in die Gedan-kenwelt eines Siegers vordringen«. (S. 11) Was also erwartet uns? Wer nun auf Reflexionen über den Krieg, die Deutschen und den Nationalsozialismus gespannt ist, wird enttäuscht sein. In den Aufzeich-nungen geht es um die Überlebensängste eines jungen Offiziers in den ersten Wochen des Jahres 1945. Nach der Kapitulation der Wehrmacht stehen die Sorgen und Nöte des jungen Leutnants im Vordergrund und manchmal drängte sich dem Rezensenten beim Lesen der Untertitel »Die Leiden des jungen Gelfand auf«. Der Leutnant hat bei seinen Offizierkameraden keinen leichten Stand. Er ist nicht gerade ein Mustersoldat, obwohl er sich freiwillig gemeldet hat und 1942 verwundet worden ist. Als seine eigentliche Berufung empfindet er die Schriftstellerei. Die Tagebuchnotizen sind als Vorstufe für einen Roman gedacht, den er nach dem Krieg schreiben will. Das Bild, das er von der Truppe in den ersten Monaten des Jahres 1945 zeichnet, ist nicht unbedingt neu: Er erlebt Vorgesetzte, die ihre Angst vor dem Einsatz im Alkohol ertränken, und Offiziere, die nicht in der Lage sind, die Disziplin aufrecht zu erhalten. Gelfand ist angewidert von den Kriegsverbrechen. Aber gleichzeitig vertritt er die Ansicht, dass die Deutschen für den furchtbaren Krieg, den sie 1941 entfesselt haben, bezahlen müssen. Am 9. Mai 1945 ist alles vorbei: Die Wehrmacht hat kapituliert und aus Gelfand ist ein Sieger geworden. Und nun entdeckt er, dass das Leben auch angenehme Seiten hat. Gelfand sieht gut aus, ist lebenslustig und wenn er sich im Umgang mit dem anderen Geschlecht auch nicht immer leicht tut, so erlebt er doch sein >Frollein-Wunder<. Dabei bleibt er prinzipienfest: »Mit den deutschen Frauen stimme ich ideologisch und moralisch nicht überein«, heißt es am 18. Juli 1945 in seinen Auf-zeichnungen (S. 111). Die Aufzeichnungen belegen auch, wie schwer sich die Rote Armee mit der Umstellung von einer kämpfenden Truppe zu einer Besatzungsstreitmacht tut. Die Disziplin verfällt und der sowjetische Oberbefehlshaber, Marschall Shukow, muss harte Befehle erlassen, damit es nicht zu weiteren Entgleisungen kommt. Gelfand billigt dies, da er ansonsten befürchtet, dass das Verhalten mancher Rotarmisten dem Ansehen der russischen Streitkräfte schadet. Am Schluss wirft Elke Scherstjanoi noch einen Blick auf das weitere Leben von Wladimir Gelfand. Nach seiner Rückkehr und der Entlassung aus der Armee holte Gelfand das Abitur nach und studierte Literatur an der Universität Molotow. 1952 machte er Examen und wurde Lehrer an einer Fachschule für Eisenbahner. Bis zu seinem Tod im Jahr 1983 unterrichtete er an Berufsschulen. Was sagen uns die Aufzeichnungen des jungen Russen? Die Herausgeberin muss aufgrund fehlender Vergleichsquellen die Frage offen lassen, ob die Notizen des Wladimir Gelfand repräsentativ oder singulär sind. Sie hebt hervor, dass Gelfand trotz seines intensiven Kontaktes zu den Deutschen »wenig Mitgefühl« gezeigt habe (S. 333). Neue Einblicke eröffnet uns das Buch nicht. Doch es macht eines deutlich: Es gab in der Roten Armee auch Soldaten, die beim allem Hass auf die Deutschen Vergewaltigungen und Plünderungen ablehnten. Genauso wenig, wie man die Soldaten der Wehrmacht generell zu Verbrechern abstempeln kann, ge-nauso wenig ist ein solches Urteil über die Soldaten der Rote Armee angebracht. Letztlich waren es >ganz normale junge Männer<, die froh waren, jenem mörderi-schen Krieg entronnen zu sein, den die deutsche Seite mit ihrem Angriff auf Russ-land am 22. Juni 1941 entfacht hatte. So kann das Buch vielleicht dazu beitragen, Vorurteile gegenüber unserem östlichen Nachbarn abzubauen. Axel Kellmann |
© Militaergeschichtliche Zeitschrift
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