Studien zu den Alltagserfahrungen von Angehörigen der Roten Armee entstehen erst seit gut einem Jahrzehnt. Besonders kontrovers wird dabei die schon ältere Frage diskutiert, wie das individuelle Verhältnis der Rotarmisten und Rotarmistinnen zum manchmal als totalitär bezeichneten Staat war. Zwei vielfach beachtete Publikationen der letzten Jahre nehmen nun unterschiedliche Perspektiven ein.
„Giving oneself up is the most difficult operation in war.“ Mit diesen Worten zitiert Mark Edele den mehrfachen israelischen Veteranen Shimon Tzabar (S. 38).[1] Dasselbe ließe sich umstandslos auch über die Aufgabe sagen, ein wissenschaftliches Buch über Desertation (desertation), also das Fernbleiben oder sich Entfernen aus einer (kämpfenden) Armee zu schreiben. Sie wird zudem noch schwieriger, wenn Desertation im Sinne von „überlaufen“ (to defect) zu verstehen ist, also das Wechseln der militärischen Seiten bedeutet, und es von sowjetischen Soldaten betrieben wurde, die während des „Großen Vaterländischen Krieges“ 1941–1945 ihr Heil bei den Deutschen suchten:[2] Kaum eine Armee war dermaßen Gewalt, Repression und Propaganda unterworfen wie die Rote Armee und ist bis heute Objekt massiver (erinnerungs-)politischer Zuschreibungen. Daten oder Quellen aus Perspektive der Überläufer sind daher rar oder verfolgen, wie manche ältere Forschungstradition, allzu offensichtlich politische Zwecke. Nichtsdestoweniger hat sich Edele mit „Stalin’s defectors“ dieser Aufgabe angenommen und thematisiert in seinem recht kurzen Buch genau die Schwierigkeiten, auf die er traf, ja treffen musste.
Edeles Ziel dabei ist ein „dual historiographical experiment“: Zum einen sei sein Buch eine „military history from below“, das zudem Kulturgeschichte und Quantifizierungen wieder vereine; zum anderen trage es zu der angehenden Debatte über die Bedeutung der sowjetischen Kriegsanstrengung in der längeren Geschichte der sowjetischen Gesellschaft bei. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die hohen Zahlen an Überläufern eine Art Plebiszit gegen das armselige Leben unter Stalin waren. In einer Reihe mit Arbeiten der jüngeren Forschung konstatiert er, dass lediglich Minderheiten in der Roten Armee zutiefst loyal oder fundamental oppositionell eingestellt waren. Die Mehrheit, und dafür stehen die Überläufer, wollte einfach überleben und sich nicht zwischen Stalin und Hitler entscheiden, sondern meinte, eine Position zu wählen, die für sie („us“) war (S. 8ff.).
Als narrativer Faden durch das Buch dient die Biographie des Überläufers und Kollaborateurs Ivan Nikitič Kononov, dessen Leben eine scharfe Wandlung erfuhr: Vom „communist career soldier“, der sein ganzes Regiment zum Überlaufen bewegen konnte, wurde er zum Befehlshaber einer Untereinheit der Wehrmacht, die hinter den deutschen Linien gegen sowjetische Partisanen kämpfte. Kononov, der sich selbst als „temporally ally“ der Deutschen sah, um selbsterklärt für die Befreiung seines Heimatlandes von Stalin zu kämpfen, galt diesen als Kollaborateur und den Sowjets als Verräter (S. 1ff.). Er steht damit für die sehr holzschnittartigen Zuschreibungen, die den Überläufern sowohl zeitgenössisch als auch erinnerungspolitisch zuteilwurden und die Edele weiter ausdifferenzieren will. Dabei stellt er immer wieder klar, dass die Überläufer weder mit der Gesamtheit der fünf bis sechs Millionen Kriegsgefangenen zu verwechseln noch per se als Kollaborateure zu sehen sind (S. 5, S. 17).
Basierend auf deutschen und sowjetischen Verhörprotokollen von sowjetischen Kriegsgefangenen, Aussagen vor sowjetischen Kriegsverbrechertribunalen und Memoiren beginnt Edele seine Studie mit einer sehr kleinteiligen Rekonstruktion der Zahlen an Überläufern. Er verweist auf Schätzungsschwankungen, die von zwei bis sechs Prozent Überläufern unter der Gesamtheit der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Jahren 1942–1945 und einem Extremwert von 37 Prozent für 1941 changieren (S. 31). Trotz der seitenlangen Ausführungen bleibt sein Resultat vage: Verweist er im ersten Kapitel noch auf 117.000 bis 251.000 Überläufer, spricht er im Laufe des Buches von Tausenden bis Hunderttausenden, gar Millionen (vgl. S. 36 und S. 51).
Diese Zahlen bleiben offensichtliche Schätzungen, wie auch die folgenden Kapitel zeigen: Potentielle Überläufer standen vor dem Problem, dass die sowjetischen Instanzen alle Register zogen, um die Soldaten zum Kämpfen zu bewegen. Edele verweist im Kapitel „Obstacles“ auf solche berühmt-berüchtigten Maßnahmen wie die Befehle 227 und 270 und die massiven Repressionen, die auch die Familien der als Verräter titulierten Überläufer betrafen. Dazu kam die sowjetische Propaganda über den Umgang der Deutschen mit Kriegsgefangenen und die Gewalt der eigenen Kameraden gegenüber den Überläufern in den deutschen Gefangenenlagern. Es muss also notwendigerweise im Dunkeln bleiben, wie viele Soldaten übergelaufen wären, hätte sie nicht die eine oder andere Maßnahme daran gehindert, und wie viele den Weg zu den Deutschen überhaupt überlebten. Im Kapitel „Scenarios“ unterstreicht Edele dann sein Argument, dass das Überlaufen vor allem aus einem spontan aufscheinenden Überlebenswillen resultierte. Die jeweiligen Soldaten hatten nichts mehr zu verlieren und hingen teilweise unrealistischen Vorstellungen nach, wenn sie auf eine Behandlung durch die Deutschen wie im ersten Weltkrieg hofften. Dieser „survivalism“ war, wie Edele im übernächsten Kapitel „Motivations“ ausführt, teilweise sogar ein Resultat der brutalen Behandlung durch die sowjetischen Kommandeure, die somit das Gegenteil von dem erreichten, was sie intendierten (S. 100f.). Als weitere Motivation, die um einiges komplexer war, benennt er den Defätismus einiger Soldaten, ihren Mangel an Motivation zu kämpfen. Beides, „survivalism“ und Defätismus, konnte mit politischer Entfremdung einhergehen, die wiederum ihre Wurzeln schon in Erfahrungen in den Vorkriegsjahren haben oder mit Antisemitismus verbunden sein konnte.
Im Kapitel „Profiles“ verweist Edele wieder mit Hilfe von Statistiken – wenig überraschend – darauf, dass die Überläufer im Großen und Ganzen die sowjetische Gesellschaft repräsentierten, und dennoch ältere, nicht-slawische Soldaten aus der Arbeiterklasse tendenziell eher überliefen. Und mit Blick auf die Kollaboration im gleichnamigen Kapitel kommt insbesondere Hitlers Unwille, auf sowjetische Kollaborateure zu setzen, zur Sprache. Besondere Berücksichtigung finden auch die Beteiligung der Trawniki am Holocaust und die Strafen, die diesen im Rahmen der Repatriierung zuteilwurden, sofern sie nicht nach der Filtration ins zivile Leben entlassen wurden.
Im öffentlichen Gedächtnis sollte dann lange die Geschichtsschreibung der russischen Emigration einflussreich sein, wie Edele im vorletzten Kapitel „Afterlives“ deutlich macht: Sie schaffte es – wenn auch nicht unwidersprochen – aus Ivan Kononov einen Freiheitskämpfer zu machen und argumentierte mit Verweis auf die Massen an sowjetischen Kriegsgefangenen auf deren angeblichen Widerstand gegen Stalin. Gegen diese These, aber auch dagegen, dass allein militärische Gründe verantwortlich für die hohen Gefangenenzahlen waren, der Stalinismus also ein populäres Regime gewesen sei, wendet sich Mark Edele hier wie im Schlusskapitel noch einmal. Die These einer loyalen Bevölkerung ließe sich allein bei Ignorierung eines großen Teils der Daten durchhalten (S. 171).
Mit „Stalin’s Defectors“ hat Mark Edele ein kompaktes Buch geschrieben, das seinem historischen Gegenstand nicht nur mit Hilfe von detaillierten Statistiken beikommt, sondern auch die historiographischen Spuren verfolgt. Beides ist zu begrüßen, da Edele so seinen Forschungsgegenstand aus der erinnerungspolitischen Mythologisierung hervorholt und versachlicht, auch wenn die Auswertung der Statistiken, die vielfach auf sehr dünnem Datenmaterial beruhen, manchmal allzu kleinteilig wirkt. Die kulturgeschichtliche Behandlung der Überläufer hingegen hätte ausführlicher ausfallen können. Denn seine Thesen zu diesem wirklich schwierig zu greifenden Thema und die Betonung eines allzu menschlichen apolitischen Überlebenswillen, mit dem die Soldaten in ihrem Kriegsalltag auszukommen versuchten, werfen eine wichtige Perspektive auf die Roten Armee und die sowjetische Gesellschaft. Sie gilt es zu weiten, da zumindest die Rezensentin gerne mehr über die Entstehung und Verbreitung der von Edele angesprochenen irrationalen Überlegungen und der anhängigen Gerüchte erfahren hätte. Edeles Perspektive mag weniger effektheischend sein als die eines omnipräsenten Stalinismus, ist aber vielleicht näher am historischen Subjekt.
Vladimir Gelfands Tagebuchaufzeichnungen lassen sich als Gegenerzählung zu Mark Edeles Ausführungen lesen – zumindest auf ersten Blick. Gelfand war kein Überläufer, sondern ein relativ durchschnittlicher Soldat aus einer assimilierten jüdischen Familie, die aus der Ukraine stammte. Gedanken ans Überlaufen vertraute er zumindest seinem Tagebuch nicht an. Gerade weil Gelfand in vielerlei Hinsicht eine „andere“ Seite des sowjetischen Krieges erzählt, sind seine Gedanken höchst lesenswert.
Zeitgenössische Egodokumente aus Perspektive der Rotarmisten, egal ob in Russisch oder übersetzt, bleiben im Gegensatz zu Memoiren aus den unterschiedlichen Phasen der sowjetischen und russischen Erinnerung rar. Wenn es Tagebücher gibt, stammen sie oftmals aus der Feder von „Stabsratten“, also von Männern (und einer Frau!), die als Übersetzer oder Schreiber hinter der direkten Frontlinie saßen und den Zugang zu Papier sowie andere Ressourcen zum Schreiben hatten.[3] Nicht so Gelfand: Nach seiner Meldung zum Einsatz und Grundausbildung 1942 war er als späterer Offizier lange Zeit in Kampfhandlungen verwickelt, die ihn auf Umwegen und mit Verwundungen von Südrussland bis nach Berlin brachten.[4]
Gelfand bestätigt die These von Mark Edele, dass jüngere Rotmaristen, zumal wenn sie politisiert waren, tendenziell weniger dazu neigten, überzulaufen. Bei ihm kam dazu, dass er als Jude, der zwar in der Ukrainischen SSR geboren, dessen Familie aber in den Vorkriegsjahren mehrfach innerhalb der Sowjetunion umgezogen war, sich stark an das Sowjetregime gebunden hatte, welches Aufstieg und Modernität versprach. Diese Bindung versuchte er nicht zuletzt auch durch das Tagebuch herzustellen: Er nutzte dieses zur Selbsterziehung zum tapferen Soldaten im Sinne der stalinistischen Propaganda, für den es nur „Tapferkeit oder Tod. Tod, keine Gefangenschaft“ gibt (Eintrag vom 28. Juni 1942; S. 81).[5] Als Jude hatte er vermutlich auch keine andere Wahl.
Gelfands Aufzeichnungen zeigen aber ebenso auf, wie einsam der Militäreinsatz in der Roten Armee trotz oder wegen dieser Bindung machen konnte. Er verweist regelmäßig auf Konflikte zwischen ihm und den Kameraden, die oftmals eine antisemitische Einstellung mit in die Armee brachten, sowie auf Schikanen durch die Vorgesetzten. In der Konsequenz wurde das Tagebuch nicht nur zum „seelischen Mülleimer“, in dem Gelfand all die schlechten Erfahrungen ließ, es war ihm, dem Außenseiter, gar ein „teurer Freund“ (Eintrag vom 3. September 1942, S. 108). Zudem thematisieren die Aufzeichnungen seinen Frust hinsichtlich der Tatsache, dass er lange Zeit wenig Erfolg bei Frauen hatte, vor allem bei denen in der Roten Armee. In der Konsequenz wurde Gelfand ob seiner „Jungfräulichkeit“ und Bedürftigkeit gehänselt (Einträge vom 12. April und 20. November 1944, S. 288 und S. 373). Letztlich reagierte er mit pauschalen Abwertungen auf die Kameradinnen, die ihm fortan als „verdorbene und vulgäre Kreaturen“ galten (Eintrag vom 29. Juni 1945, S. 453). Seine oftmals wahllosen und nicht zwingend auf beiderseitigem Konsens beruhenden sexuellen Begegnungen mit deutschen Frauen im besetzten Berlin sind in diesem Spannungsfeld von Begehren, Erwartungshaltung und Enttäuschung zu verstehen.
Die vorliegende Ausgabe der Aufzeichnungen Vladimir Gelfands ist inzwischen die dritte. Bereits 2002 wurden sie gekürzt veröffentlicht, zudem ohne Kommentare und in einer leseunfreundlichen Optik.[6] 2005 edierte Elke Scherstjanoi dann denjenigen ins Deutsche übersetzten Teil, der von Gelfands Zeit in Berlin handelte und zu Recht große Resonanz beim deutschen Publikum hervorrief.[7] Bereits diese Ausgaben waren unerlässlich für alle Wissenschaftler/innen und Studierenden, die sich mit der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg und dem Erleben ihrer Angehörigen beschäftigen wollten: Gelfands Ausführlichkeit und seine vielfach naive Offenheit ermöglichen vielfältige alltagsgeschichtliche Perspektiven, die für die Rote Armee erst langsam entstehen.
Mit der vorliegenden Ausgabe liegt nun endlich die vollständige und wohl auch überarbeitete Version der Tagebuchaufzeichnungen vor, die zudem von Oleg Budnickij und seinen Mitarbeiter/innen fachgerecht kommentiert und mit Gelfands Briefen an die Familie in der Evakuation, offiziellen Eingaben seinerseits sowie Instruktionen offizieller Stellen kontrastiert wurden. Es bleibt also nur zu hoffen, dass auch sie irgendwann ihren Weg in die deutsche Übersetzung findet. Denn dann könnten auch des Russischen unkundige Leser/innen darüber mitdiskutieren, ob Gelfands Aufzeichnungen tatsächlich die Gegenerzählung zu Mark Edeles Überläufern sind und die Frage der Loyalität letztlich von biographischen Kategorien entschieden wurde.
Anmerkungen:
[1] Edele zitiert aus: Shimon Tzabar, The White Flag Principle. How to Lose a War (And Why), 2. Aufl. New York 2002, S. 107.
[2] Unter den Überläufern war keine einzige Frau (S. 77), sodass hier allein die männliche Form zu verwenden ist.
[3] Zum
Beispiel Vladimir Steženskij, Soldatskij dnevnik. Voennye stranicy
[Soldatentagebuch. Kriegsseiten], Moskau 2005; Irina Dunaevskaja, Ot
Leningrada do Kenigsberga. Dnevnik voennoj perevodčicy [Von Leningrad
nach Königsberg. Tagebuch einer militärischen
Übersetzerin] (1942–1945), Moskau 2010.
Ein auf Deutsch erschienenes Tagebuch von vorderster Front, das aber
nur die letzten Kriegswochen thematisiert, ist: Eine Stimme aus dem
Jahr 1945. Das Tagebuch des Panzersoldaten Iwan Panarin. Hrsg. vom
Kulturhistorischen Museum Rostock, Rostock 2015.
[4] Für
alle biographischen Angaben siehe: Elke Scherstjanoi, Ein Rotarmist in
Deutschland, in: Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch
1945–1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten, Berlin 2005, S.
315–340.
[5] Immer
noch das Standardwerk für einen solchen Ansatz: Jochen Hellbeck,
Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge MA 2006.
[6] Wladimir N. Gelfand, Tagebuch 1941–1946, Baden-Baden 2002.
[7] Wladimir
Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945–1946. Aufzeichnungen eines
Rotarmisten, ausgewählt und kommentiert von Elke Scherstjanoi,
Berlin 2005.