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VORWORT
„Wieder einmal muß ich darüber nachsinnen, was es bedeutet, in Furcht und Elend allein dazustehen. Es erscheint mir leichter, da die Qual des Mitleidens fehlt. Was mag die Mutter eines zerstörten Mädchens empfinden? Was jeder wirklich Liebende, der nicht helfen kann oder nicht zu helfen wagt?“ Über 60 Jahre ist es her, dass die Autorin und Journalistin unter ihrem Pseudonym Anonyma diese Sätze in ihr Tagebuch schreibt, das später auf den Bestseller-Listen zu finden sein wird. Anonyma beschreibt den Kampf ums Überleben und die Demütigung der Frauen durch Massen vergewalti gun - gen der Roten Armee in Berlin im Jahre 1945, ohne Gewalt und Vergewaltigung in den Vordergrund zu stellen. Ein Tabu bis heute. Der Film ANONYMA – EINE FRAU IN BERLIN bietet eine Chance, endlich dieses Tabu zu brechen und Bezüge zu heute herzustellen, denn noch immer werden tagtäglich Frauen in Kriegsgebieten vergewaltigt, gedemütigt und als „Kriegsbeute“ benutzt. Wir sind gefordert, auf Fragen, die sich stellen, Antworten zu geben. So, wie es dieser Film tut. Offen, ehrlich, schonungslos. Unsere Kinder verdienen es und all die Frauen, die bis heute nicht darüber sprechen konnten. Wir möchten Ihnen Mut machen, dieses immer noch bestehende Tabu in Ihrem Unterricht und Ihren Semina - ren anzusprechen. Die von uns zusammengestellten Materialien sollen Ihnen hierbei Unterstützung bieten. Ihre Vera Conrad mit den Autoren Regine Wenger und Rolf Thissen |
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INHALTSANGABE
Es sind die letzten Tage des Krieges, April 1945 in Berlin. Im Keller eines halb zerstörten Wohnhauses kauern die Menschen und warten. Sie haben die Bombennächte überstanden und auch den Artilleriebeschuss. Die meisten von ihnen sind Frauen und sie ahnen, was sie erwartet. Der Einmarsch der Roten Armee in Berlin steht unmittelbar bevor. Da ist die stets hilfreiche Witwe (IRM HERMANN), da sind die lebenslustigen Schwestern Bärbel (JÖRDIS TRIEBEL) und Greta (ROSALIE THOMASS), die ältere Buchhändlerin (KATHARINA BLASCHKE), die Likör fabrikantin (MARIA HARTMANN), deren Mann sie einer Jüngeren wegen sitzen ließ, das lesbische Liebespaar Steffi (SANDRA HÜLLER) und Lisbeth (ISABELL GERSCHKE), die resolute Achtzigjährige (ERNI MANGOLD), das verzweifelte Flüchtlingsmädchen (ANNE KANIS), da sind Mütter mit ihren Kindern und auch ein paar ältere Männer, aus denen der Krieg alle Kraft herausgesogen hat. Vor allem aber ist da die knapp dreißigjährige Anonyma (NINA HOSS), dereinst Journalistin und Fotografin. Sie wird die Ereignisse der nächsten Tage für ihren Lebensgefährten Gerd (AUGUST DIEHL) festhalten, der vor Jahren an die Ostfront verschwand. Es werden Tage der Schrecken und widersprüchlichsten Erfahrungen. Anonyma wird, wie die meisten Frauen, von den Siegern mehrfach vergewaltigt. Doch sie taugt nicht zum Opfer. Mit Mut und dem unbedingtem Willen, ihre Würde zu verteidigen, fasst sie einen Entschluss. Sie wird sich „einen Wolf“ suchen, einen russischen Offizier, der sie vor den anderen schützt. Als Gegenleistung wird sie mit ihm schlafen – freiwillig. Und es geschieht, worauf sie am wenigsten gefasst war. Der höfliche, melancholische Offizier Andrej (EVGENY SIDIKHIN) weckt ihr Interesse. Es entsteht wirkliche Nähe. Und doch bleiben sie – er Sowjet, sie Deutsche – Feinde bis zum Ende. Auch die anderen Frauen entwickeln ihre Strategien, mal schnoddrig, mal unterwürfig, auf kleine Vorteile bedacht. Und es zeigt sich, dass auch die sowjetischen Soldaten nach menschlicher Nähe verlangen. Sie nisten sich ein in diesem zerbombten Haus. Und schließlich werden Sieger und Besiegte wie bei einem wilden Tanz auf dem Vulkan sogar das Ende des Krieges zusammen feiern. Denn etwas vereint sie doch: sie sind – nach einem langen Krieg – dem Tod entronnen. Nach dem Schrecken der männlichen Gewalt, nach einem Taumel der Gefühle wird sich der Blick auf eine Zukunft öffnen, in der sehr langsam ein normales Leben beginnen kann. (Quelle: Presseheft) DAS BUCH In drei dicht beschriebenen Schulheften hält Anonyma – damals eine noch relativ junge, aber schon weit gereiste Journalistin – ihre Erlebnisse in Berlin vom 20. April bis zum 22. Juni 1945 fest, als vergewaltigende und plündernde Rotarmisten durch die Stadt ziehen und auch sie ein Opfer wird. Aus den Kladden entstehen ab Juli 1945 auf grauem Kriegspapier 121 engzeilige Schreibmaschinenseiten. Erst Jahre später kommt das Typoskript unter anderem dem Schriftsteller Kurt W. Marek (C. W. Ceram) zu Gesicht, der schnell den historischen Wert dieses über das Persönliche hinausgehenden Zeitdokuments erkennt. Ceram entspricht dem Wunsch der Autorin, ihr Inkognito zu wahren und sorgt dafür, dass ein New Yorker Verleger im Herbst 1954 eine Übersetzung herausbringt. 1955 folgt eine britische Ausgabe. Seitdem sind Übersetzungen ins Schwedische, Norwegische und Holländische, ins Dänische und Italienische, ins Japanische und Spanische, ins Französische und Finnische erschienen. Eine Ausgabe des deutschen Originals wird 1959 von einem Schweizer Verleger herausgebracht – doch in der Bundesrepublik findet das Buch kaum Beachtung. Erst als Hans Magnus Enzensberger es 2003 in seine Reihe „Die andere Bibliothek“ beim Eichborn-Verlag aufnimmt, wird es – von der Kritik einhellig als großartiges Zeitzeugnis hoch gelobt – zu einem der meistgelesenen Bücher dieses Jahres. Enzensberger respektiert den Wunsch der (2001 verstorbenen) Autorin, auch nach ihrem Tod anonym zu bleiben. Doch Ende September enthüllt die Süddeutsche Zeitung die Identität von Anonyma. Iris Radisch konstatiert in Die Zeit vom 2.10.2003 einen Fall von „journalistischem Machismo“. Einen Tag zuvor kommt Joachim Güntner in einer der renommiertesten Zeitungen Europas, der Neuen Zürcher Zeitung, zu dem harschen Schluss: „Bisher fehlen die Belege, die eine seriöse journalistische Recherche von böser Nachrede unterscheiden würden.“ Im Januar 2004 spricht sich der Schriftsteller Walter Kempowski, ein anerkannter Experte in Sachen Tagebücher, für die Authentizität der Texte von Anonyma aus und sorgte somit für die Beendigung der leidigen Diskussion. |
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ANMERKUNGEN DES PRODUZENTEN
GÜNTER ROHRBACH
Es ist das letzte große Tabu des Zweiten Weltkriegs. Bis heute gibt es, auch in der Wissenschaft, darüber nur wenige Veröffentlichungen, kein Standardwerk, keine verlässlichen Zahlen. Hunderttausende Frauen sind vor allem im Osten Deutschlands in den letzten Kriegswochen vergewaltigt worden. Manche Schätzungen bewegen sich zwischen einer und zwei Millionen, zuverlässig sind sie nicht. Wie sollten sie auch, denn kaum jemand hat darüber öffentlich gesprochen, am wenigsten die Frauen selbst. Sogar in den Familien gab es so etwas wie einen Schweigebann. So groß wie das Leid war die Scham, auch und gerade dem eigenen Mann, den eigenen Kindern gegenüber. Soweit sich die Wissenschaft überhaupt dem Thema näherte, stützte sie sich auf die wenigen schriftlichen Zeugnisse, die ihr zugänglich waren. Historiker arbeiten nach Aktenlage. Mündliche Recherchen sind ihnen fremd. So waren es Journalisten wie Erich Kuby („Die Russen in Berlin 1945“) und vor allem die Filme - macherin Helke Sander, die die fundiertesten Beiträge zum Komplex der Vergewaltigungen geliefert haben. Helke Sanders Film „BeFreier und Befreite“ erschien Anfang der 1990er Jahre zusammen mit dem gleich - namigen Buch. Ergänzend zu zahlreichen persönlichen Zeugnissen wird hier erstmals auch versucht, den bestürzenden Umfang der Ereignisse mit Zahlen zu unterlegen. Gegenüber der Methodik dieser Ermittlung mag es Zweifel geben, unzweifelhaft ist aber, dass es hier um eine Größenordnung geht, deren erfolgreiche Verdrängung durchaus skandalös genannt werden kann. In den Kriegen der Männer waren die Frauen seit jeher eine mehr oder weniger selbstverständliche Beute. Heute nennt man das Kollateralschäden. Daran hat sich, folgt man den Berichten aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus dem Irak oder Afghanistan, bis in unsere Gegenwart hinein nichts geändert. Dennoch war das Ausmaß der Vergewaltigungen von 1945 extrem und beispiellos. |
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Die Tabuisierung dieser Ereignisse hat viele Gründe. Der wichtigste: Die eigene schwere Schuld hat es den
Deutschen jahrzehntelang schwer, ja unmöglich gemacht, sich auch mit jenen Verbrechen der Nazizeit und
des Krieges zu beschäftigen, bei denen sie sich selbst als Opfer sehen konnten. Diese Haltung war im Nach -
kriegsdeutschland weitgehend unumstritten. Erst in letzter Zeit hat man, nicht ohne kritische Begleit -
geräusche, damit begonnen, in diesem oder jenem Falle eine andere Perspektive zuzulassen. Zweifel los hat
es auch eine Rolle gespielt, dass bei den Vergewaltigungen die Täter vor allem Soldaten der Roten Armee
waren, die Opfer Bürger der DDR. Es war gerade in der DDR politisch nicht opportun, die Befreier mit einem
solchen Makel zu belasten. So war es eine große Ausnahme, wenn Bert Brecht in seinem Arbeitsjournal unter
dem Datum vom 25.10.1948 mit aller Vorsicht und im Bemühen um Gerechtigkeit folgendes schrieb:
„immer noch, nach den drei jahren, zittert unter den arbeitern, höre ich allgemein, die panik, verursacht durch die plünderungen und vergewaltigungen nach, die der eroberung von berlin folgten. In den arbeitervierteln hatte man die befreier mit verzweifelter freude erwartet, die arme waren ausgestreckt, aber die begegnung wurde zum überfall, der die siebzigjährigen und die zwölfjährigen nicht schonte und in voller öffentlichkeit vor sich ging. Es wird berichtet, dass die russischen soldaten noch während der kämpfe von haus zu haus, blutend, erschöpft, erbittert, ihr feuer einstellten, damit frauen wasser holen konnten, die hungrigen aus den kellern in die bäckereien geleiteten, die unter trümmern begrabenen ausgraben halfen, aber nach dem kampf durchzogen betrunkene horden die wohnungen, holten die frauen, schossen die widerstand leistenden männer und frauen nieder, vergewaltigten vor den augen von kindern, standen in schlangen an vor häusern usw …“ Nicht zuletzt waren es die Frauen selbst, die eine Auseinandersetzung mit diesem Thema verhinderten. Sie hatten verständlicherweise kein „Interesse“ daran, da sie mit dem, was sie trotz aller erlittenen Gewalt auch für ihre Schande hielten, nicht erneut konfrontiert werden wollten. Auch in der von dem Historiker Rolf-Dieter Müller im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegebenen zehnbändigen Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkriegs werden die Vergewaltigungen nur beiläufig behandelt. Auch hier keine Zahlen – man beschränkt sich auf die pauschale Formulierung „Hunderttausende“ und resigniert vor der Unmöglichkeit einer zuverlässigen Quantifizierung mit dem Begriffspaar „zahllos und namenlos“. Wann immer freilich in den vergangenen Jahrzehnten die Verbrechen an den Frauen im Berlin des Jahres 1945 zum Thema wurden, hat man sich nicht zuletzt auf die Tagebuchaufzeichnungen der Anonyma unter dem Titel „Eine Frau in Berlin“ berufen. Sie sind bis heute die einzige authentische Veröffentlichung, die es über die Massenvergewaltigungen des letzten Krieges gibt. Es ist bezeichnend, dass die Autorin ihren Namen auch Jahrzehnte nach den geschilderten Vorgängen nicht genannt hat. Wir haben ihren Wunsch, auch über den Tod hinaus anonym zu bleiben, respektiert, obwohl der Name an anderer Stelle inzwischen öffentlich geworden ist. Es hat Versuche gegeben, die Authentizität dieses Dokumentes in Zweifel zu ziehen. Überzeugend waren sie nicht. Ein Gutachten Walter Kempowskis hat sie im Übrigen widerlegt. Die Ereignisse selbst sind ohnehin unumstritten. |
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Anonyma hat in der Zeit vom 20. April bis 22. Juni 1945 in Berlin Tagebuch geführt und diese Auf zeich nun - gen unter Anleitung ihres Mentors Kurt W. Marek (dem berühmten C.W. Ceram) erstmals 1954 in New York in englischer Übersetzung veröffentlicht. Das Buch wurde auf Anhieb ein großer Erfolg. Nach etwa einem Dutzend weiterer ausländischer Ausgaben erschien das Buch Ende der 1950er Jahre auch in deutscher Sprache – und blieb weitgehend unbemerkt. Zu kurz war damals noch der Abstand, zu frisch waren die Wunden. Ohnehin war man in jenen Jahren vor allem damit beschäftigt, die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs möglichst aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen. Es war allerdings nicht nur der Inhalt, der die Leser abschreckte, sondern vor allem der Ton, in dem die Anonyma ihre Erlebnisse verarbeitet hatte. Er ist frei von jeder Larmoyanz, kein Opfer-Pathos, kein Mitleidsappell. Anonyma schildert diese Wochen des Grauens und der Verfolgung selbstbewusst und mit jener schnoddrig sachlichen Kühle, die so typisch ist für die Berlinerin. Sie hat sich nicht unterkriegen lassen, so wenig wie viele der Frauen in ihrer Umgebung, ihr Überlebenswille war groß und stark. Und sie hat sich auch nicht gescheut, sich zu „prostituieren“, wenn anders das Weiter - leben nicht gewonnen werden konnte. | |||
Aber genau das, ihre Bereitschaft, das scheinbar Unmögliche zu tun, mit kühner Entschlossenheit die
Gesetzlichkeiten der bürgerlichen Moral zu ignorieren (weil deren Einhaltung sie mit Sicherheit umgebracht
hätten!) und es auch noch trotzig niederzuschreiben, hat die deutschen Zeitgenossen der 50er Jahre empört.
Ihr Bild von der deutschen Frau ließ nichts anderes zu als den Opfergang, im Zweifel bis zum Letzten.
Als Hans Magnus Enzensberger zu Beginn dieses Jahrhunderts das Buch wieder aufgriff und es in seiner „Anderen Bibliothek“ veröffentlichte, war die Resonanz überwältigend positiv. Befördert vom Enthusiasmus der Kritiker enterte das Buch auf Anhieb die Bestsellerlisten. Erneute Veröffentlichungen in zahlreichen Ländern waren die Folge. Ich habe mich damals sogleich um die Rechte bemüht, was nicht ganz einfach war, weil deren Inhaberin, eine Freundin der verstorbenen Anonyma und die hinterbliebene Ehefrau von Kurt W. Marek, ihre Zustimmung zunächst verweigerte. Sie musste hartnäckig umworben und überredet werden. In der Zwischenzeit hat es zahlreiche Anfragen nach den Verfilmungsrechten aus dem In- und Ausland, nicht zuletzt auch den USA gegeben. Der Film stellt sich dem Thema auf komplexe und ungewöhnliche Weise. Er erzählt keine typische Opfergeschichte. Er verschweigt nicht, wer in diesem Krieg die Angreifer, wer die Täter und damit die Verursacher waren. Es ist kein Film über „arme deutsche Frauen“ und „böse russische Soldaten“. Dennoch weicht er den harten Fakten nicht aus. Das ist ein schmaler Grad, auf dem er sich bewegt, aber es ist möglich, weil die Anonyma für sich selbst die mutige Entscheidung getroffen hat, nicht nur Opfer sein zu wollen |
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Sie
hat uns überdies die Chance gegeben, das zu vermeiden, was in
vergleichbaren deutschen Filmen immer
wieder geschieht, dass nämlich die Hauptfiguren aus dem
politischen Kontext der Nazizeit herausgelöst und
ideologisch entschuldet werden. Wir haben uns dem Problem gestellt,
dass die Anonyma ein Teil des
Systems war. „War ich selber dafür? Dagegen?“,
schreibt sie in ihrem Tagebuch, „ich war jedenfalls mittendrin
und habe die Luft eingeatmet, die uns umgab und die uns färbte,
auch wenn wir es nicht wollten.“ Sie war
Journalistin, da hatte sie nicht viele Möglichkeiten, den
Ansprüchen derer zu entkommen, die dieses Land
regierten. Sie hat Texte geschrieben, wie sie damals geschrieben
wurden, auch von Journalisten, die später
den demokratischen Geist der Bundesrepublik repräsentierten.
Wir haben uns auch bemüht, die russischen Soldaten als Menschen darzustellen. Sie waren zum großen Teil einfache Bauern, denen man dieses reiche Deutschland als Beute versprochen hat, als Ausgleich für erlittenes Leid. Kein anderes Volk hat auch nur annähernd so viele Opfer gebracht. Von den über 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs waren mehr als die Hälfte Bürger der Sowjet-Union. Den Rahmen des Films bilden die Vergewaltigungen und die mutige Selbstbehauptung, mit der eine Gruppe von Berliner Frauen versucht, damit umzugehen. In seinem Kern aber erzählt der Film eine hochdramatische Geschichte zweier Menschen, die Feinde sind und die dennoch ein starkes Gefühl füreinander entwickeln. Wir stützen uns dabei auf vorsichtige Andeutungen der Tagebuchautorin, erlauben es uns aber, darüber hinauszugehen. „Der Krieg verändert die Worte“, sagt Anonyma zu ihrem Beschützer, „Liebe ist nicht mehr das, was es war.“ Als am Ende Gert, ihr Mann, zurückkehrt, erleben wir das wahre Drama dieser Geschichte. Die Frauen haben, jedenfalls in ihrer Mehrheit, ihre Verletzungen tapfer ertragen. Es waren die Männer, die es nicht schafften. (Quelle: Presseheft) |
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ANMERKUNGEN DES REGISSEURS
MAX FÄRBERBÖCK
Als ich das Buch „Anonyma“ zum ersten Mal las, war ich mit mir uneins. Zum einen war ich von dem, was damals in Berlin geschah, geschockt. Zum anderen war ich von der Intelligenz und Schonungslosigkeit, mit der die anonyme Autorin über die Geschehnisse berichtete, hingerissen. Ich konnte mich ihrem erzähleri - schen Sog nicht entziehen. Trotzdem gab es da eine kleine, nagende Distanz. Das war die Aura der Autorin. Ihre absolut unsentimentale Art zu schreiben, die Härte ihres Blicks auf sich selbst und alle anderen – Deutsche wie Russen – war irritierend. Warum? Vielleicht, weil eine Frau, die so etwas erlebt, mehr leiden müsste, mehr Opfer sein müsste? Eine Menge Fragen taten sich auf. Und das einzige, was ich damals, also ganz zu Beginn, wusste, war, dass ich mich ihnen stellen musste. Zunächst war da die Frage nach der historischen Bedeutung des Tagebuches. Hunderttausende, vielleicht Millionen Menschen haben zu den damaligen Ereignissen geschwiegen. Das Geschehen war und ist sowohl für das deutsche wie auch für das russische Volk tabu. Darf man so ein Tabu anfassen? Und wenn, wie schreibt und inszeniert man solche Ungeheuerlichkeiten, ohne die damals Beteiligten bloß zu stellen oder zu verletzen? Wer gibt einem das Recht, über das Schweigen so vieler Menschen zu verfügen? Historische Stoffe sind beliebt. Aber das macht sie, wie mir scheint, oftmals fragwürdig. Natürlich können Kino- und Fernsehplots Geschichte emotionalisieren und „wieder erlebbar“ machen. Aber warum? Muss man sich jede leidvolle Periode einverleiben, weil sie gute Geschichten hervorbringt? Oder darf man sich wie eine Kinderfrau vor das Leben stellen und sagen, wie es damals zu sein hatte, damit es in eine heute konsumierbare Handlung passt? Ich denke schon. Geschichten-Erfinder und die damit verbundene Film- und Fernsehindustrie, dürfen das. Die Frage ist nur, ob diese nacherfundenen, oftmals sehr konfektionierten Erzählungen zu mindestens annähernd auf Augenhöhe mit der geschilderten Realität sind. Ob sie versuchen, der Wirklichkeit den Vorrang zu lassen, oder ob sie nur als eine arge Verkleinerung dessen, was wirklich geschah, gedacht sind. Bei ANONYMA haben wir, meine Co-Autorin Catharina Schuchmann und ich uns bemüht, dem Tagebuch und zahlreichen anderen Recherchen zu folgen. Wir sind zusammen mit der Historikerin Dr. Elke Scherstjanoi in diese grausame, sehr widersprüchliche Zeit eingedrungen und haben versucht, zu hören, was sie uns mit ihren vielen Stimmen erzählen möchte. Das brauchte seine Zeit. Zwischen dem ersten und dem zweiten Treffen mit meinem Produzenten Günter Rohrbach lagen circa sieben Monate. Eine Zeit, angefüllt mit verzweifelten und seltsam lebensstarken Frauen, die sich couragiert über das Leid ihrer Männer hinweg gesetzt haben, um zu überleben. Frauen, die sich lieber für einen Soldaten aktiv „prostituierten“, als ständig Vergewaltigungen durch zahlreiche Soldaten ausgesetzt zu sein. Also eine Auslotung minimalster Freiheitsgrade, um die eigene Persönlichkeit zu erhalten und um zu überleben! Frauen, die spöttisch, heiter, manchmal gallig waren. Frauen, die einfach nicht in einen Plot passten. Trotzdem wollte ich sie mehr und mehr dem Schweigen entreißen. Warum? Weil es wichtig ist, darüber zu sprechen, wie Menschen reagieren, denen genau das, was absolut nicht sein darf, zustößt. Weil das, was damals mit den Vergewaltigungen geschah, auch heute in jeder Sekunde des Weltgeschehens passiert. Und weil es vielleicht auch sinnvoll ist, dass eine Frau, die sich prostituiert, das damit verbundene Überschreiten der Moral nicht mehr nur als den ureigensten Abgrund sieht. Wie viele dieser Frauen haben weiter mit dieser „Schuld“, die keine war, und mit dem lebenslangen Schweigen, das vermutlich immer schwerer wurde, gelebt? Wie viele Männer haben etwas geahnt und auch geschwiegen? Wie sahen diese Ehen später aus? Man kann sich diesen Geschehnissen nicht nähern, ohne daran zu denken, wie tief greifend sie das Familienleben beeinflussten. Wie viele Frauen haben die Achtung vor den einst so heldenhaft verehrten Männern verloren, ihre eigenen Kräfte mobilisiert und zugepackt? Heute würde man so was Emanzipation nennen. Damals ging es um Schweigen, Verdrängen und Wiederaufbau. Wiederaufbau nicht nur der Städte, sondern auch der kränklichen Männer, die man so schnell wie möglich wieder als Familienoberhaupt brauchte. Die Autorin von ANONYMA hat all dies mit sezierend scharfem Blick gesehen, hat die Zukunft geahnt und sich geweigert zu schweigen. Sie war intelligent genug, das Überzeitliche, geradezu Archaische dieser brutalen Vorgänge zu erkennen. Gleichzeitig kam es ihr auf jedes Detail, auf jede menschliche Regung an. Sie wollte festhalten, berichten und verstehen. Die Hoffnung, dass sich durch so einen Bericht etwas am Leben verändern würde, hätte sie verlacht. Wahrheit stand ihr näher als Moral. Mit ihrer Schilderung einer kurzen sexuellen Erfüllung durch einen russischen Major brach sie nicht nur das Tabu, sich nicht berühren zu lassen, sondern auch noch darüber zu schreiben. Dass so jemand nicht mehr zur Weltverbesserung taugt, war ihr klar. Ich sehe das anders. Gerade ihr Mut, auch noch das Äußerste zu schildern, kann uns allen nur ein Beispiel sein. Denn oft ist das Schweigegebot einer Epoche genau das, was ihr am meisten schadet. Und dann die Russen. Die Bestien. Die meisten von ihnen wurden von ihrer eigenen Führung zerschunden, viele von ihnen ins Feuer geschickt. Viele waren überzeugte Sowjets, andere Mörder und Schänder. Man schätzt die Toten auf sowjetischer Seite auf ca. 26 Millionen. Mindestens die Hälfte davon waren Zivilisten. Alte, Frauen, Kinder. Wer bis Berlin kam, hatte Brand und Tod und unendlich viel Blut gesehen. Wer bis Berlin kam, war zum Äußerten fähig. Alle? Ganz sicher nicht. Unser Urteil über die Brutalität der Russen sitzt fest. Auch heute noch. Warum sich also damit anlegen? Weil die Widersprüche in der Roten Armee enorm waren und weil nicht hunderttausende Soldaten Schänder und Mörder waren. Um sie, die nicht dazu gehörten, besser zu verstehen, habe ich die erste Fassung des Drehbuches aus russischer Perspektive geschrieben. Danach erst war ich in der Lage, meinem überaus geduldigen Produzenten das Projekt zuzusagen. Ich möchte ihm an dieser Stelle für sein großes Vertrauen und die intensive Zusammenarbeit danken. |
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Mir ging es weniger als ihm um Gerechtigkeit. Ich könnte bei der historischen Komplexität des Stoffes nicht
mal sagen, was das ist. Aber die Geschehnisse und ihre Authentizität kenne ich gut.
Wenn man sich intensiv mit einer Zeit beschäftigt, beginnt sie durch einen hindurch zu sprechen. Wir hörten das Gelächter, die Häme und Ansprachen der Russen. Wir rochen den Fusel, sahen ihre Ausgelassenheit und Brutalität. Wir kannten ihre kraftvollen Gesichter schon lange, bevor wir uns durch die Fotos von hunderten russischer Schauspieler und circa zweitausend Komparsen arbeiteten. Und irgendwann geschah ein Wunder. Die Zeit, die zu verstehen wir uns bemühten, stand vor uns. Zerschlissene Uniformen, pralle Freude, Rach - sucht und Gewalt. Die ängstlichen Blicke von Frauen, die nicht wissen, was kommt. Der grauenvoll bittere Nachgeschmack deutscher Taten und der unbedingte Wille zu leben. So könnte es damals gewesen sein, dachte ich irgendwann. Jetzt musste ich nur noch den Film drehen … Ein letztes Wort zu der Beziehung zwischen Anonyma und dem Major. Aus unseren Recherchen weiß ich, dass Anonyma für den Major möglicherweise mehr empfand, als aus dem Tagebuch hervorgeht. Dennoch blieb sie, wie die meisten Frauen in diesen gnadenlos bedrängenden Wochen, ohne Illusion. Er war Sowjet. Sie war Deutsche. Und keiner von beiden rückte auch nur einen Millimeter von seinem Denken, seiner Her - kunft ab. Trotzdem konnte sie nicht anders, als diesen zutiefst fremden, idealistischen und unberechenbaren Mann in sich aufzunehmen. Ihrer beider Geschichte ist die Geschichte einer immer stärker werdenden Anziehung zwischen Feinden. Sie wussten beide, dass sie keine Zukunft haben. Und dennoch versuchten sie dem Anderen alles zu geben. Alles, was der Krieg ihnen ließ. Die Augen, die Worte, den Atem, das Herz. Ist das Liebe? Anonyma hat es nicht so genannt. Und wenn, hätte sie vielleicht ein anderes Wort gefunden. (Quelle: Presseheft) DIE BESETZUNG BERLINS 1945 In den so genannten Londoner Protokollen vom 12. September 1944 vereinbarten die Alliierten, dass Groß- Berlin wie auch das Deutsche Reich in drei Sektoren aufgeteilt werden würden. Bei ihrer Konferenz in Jalta billigten die Staatschefs der USA, der UdSSR und des Vereinigten Königreichs diese Regelung. Doch erst nachdem sich die westlichen Alliierten aus dem Gebiet zurückgezogen hatten, das später zur SBZ (Sowjetisch besetzte Zone) wurde, rückten sie in Berlin ein. Am 11. Juli 1945 nahm die Alliierte Komandantura, die zur Viermächte-Verwaltung Berlins erweitert worden war, ihre Tätigkeit auf – für den amerikanischen, den britischen, den französischen und den russischen Sektor. Bis zu diesem Datum war die Rote Armee die einzige Besatzungsmacht in Berlin. |
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Begonnen hatte die so genannte Schlacht um Berlin am 16. April 1945 mit einer Zangenbewegung der Roten
Armee zur Einkesselung der Stadt. Auf sowjetischer Seite kämpften etwa 2,5 Millionen Soldaten (darunter
180.000 polnische) mit 6.250 Panzern, 7.500 Flugzeugen und weit über 10.000 Artilleriegeschützen. Dem
standen auf deutscher Seite etwa eine Million Soldaten mit 800 Panzern und weniger als 100 Flugzeugen
gegenüber. Die Berliner Garnison kapitulierte am 2. Mai 1945, nachdem die Kämpfe Schätzungen zufolge
etwa 250.000 Tote und 450.000 Verwundete gekostet hatten. Mindestens 100.000 Tote waren Zivilisten. Etwa
600.000 Wohnungen waren zerstört. Die Opfer waren unter anderem deswegen so hoch, weil es Stalins Wille
war, die Eroberung Berlins so schnell wie möglich durchzuführen, um sich einen strategischen Vorteil bei den
späteren Verhandlungen mit den westlichen Alliierten zu sichern. Und weil die Nazis die Parole ausgegeben
hatten, Berlin „bis zum letzten Mann und zur letzten Patrone“ zu verteidigen.
Die in Berlin verbliebenen Wehrmachts- und SS-Einheiten sowie der aus Jünglingen und alten Männern rekrutierte „Volkssturm“ nahmen diese Parole zum Teil bitter ernst. Verbissen wurde um jedes Haus und um jeden Straßenzug gekämpft, wurden der Roten Armee große Verluste durch Heckenschützen und mit Panzerfäusten zugefügt. Doch die Übermacht war nicht aufzuhalten. Am 21. April überschritten die ersten sowjetischen Einheiten bei Marzahn die Stadtgrenze Berlins. Am 25. April wird der Einkesselungsring um Berlin vollständig geschlossen. Eines der letzten Gefechte entwickelt sich um das Reichstagsgebäude, das von SS-Männern bis zum 30. April gehalten wird. Am 8. Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg in Europa beendet, nachdem von Generaloberst Alfred Jodl, den Hitlers Nachfolger, Großadmiral Karl Dönitz, dazu autorisiert hat, die bedingungslose Kapitulation NaziDeutschlands unterzeichnet wird. EIN TAGEBUCH AUS MÄNNLICHER RUSSISCHER SICHT Mit „Deutschland-Tagebuch 1945–1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten“ von Wladimir Gelfand wird 2005 im Berliner Aufbau-Verlag erstmals ein privates Tagebuch eines Offiziers der Roten Armee aus dem Zweiten Weltkrieg in deutscher Sprache vorgelegt. Das authentische Dokument des jungen Leutnants, der im März 1945 22 Jahre alt wird, beinhaltet auch Eintragungen aus jenem Zeitraum, in dem Anonyma ihr Tagebuch führt. Wladimir Gelfand ist ein gebildeter und belesener junger Mann, der gelegentlich Gedichte schreibt und der von seinen grobschlächtiger gestrickten Kameraden und Vorgesetzten oft als Schöngeist belächelt wird; als Jude wird er obendrein bei Auszeichnungen meist übergangen, worüber er sich bitter beschwert. Dass nach der Eroberung Berlins kein Umgang mit Deutschen gepflegt werden darf, empört ihn – und er hält sich nicht an diesen Befehl, schon gar nicht, wenn es um deutsche Mädchen geht. Gewalt aber ist bei ihm nie im Spiel. Aus den mehr als 300 Druckseiten folgt hier ein etwas längerer Eintrag, der zwischen dem 25. und 27. April 1945 entstanden ist, nachdem Gelfands Einheit, die 301. Schützendivision, gerade die Spree am Treptower Park überschritten hat. „Vorgestern in einem Berliner Außenbezirk … Ich fuhr Fahrrad (ich hatte übrigens einen Tag zuvor gelernt, wie man sich auf diesem, wie mir scheint, wunderbaren Gerät fortbewegt) und begegnete einer Gruppe deutscher Frauen mit Bündeln, Packen und Koffern. […] Ich fragte die Frauen in gebrochenem Deutsch, wo sie wohnen, und erkundigte mich, warum sie ihre Häuser verlassen hatten. Schreckerfüllt erzählten sie von dem Leid, das ihnen die Sturmtruppen in der ersten Nacht, als die Rote Armee einrückte, zugefügt hatten. |
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Sie
wohnten nicht weit von unserem Standort und der Gegend, wo ich meine
Ausflüge mit dem Fahrrad
machte, so dass ich ohne Probleme zu ihnen nach Hause gehen konnte, um
der ganzen Geschichte
ausführlich nachzugehen, besonders, da mich vor allem ein
wunderschönes Mädchen anzog, das nun so zufällig und
für sie und ihre Eltern unerwartet jemandem gegenüberstand,
der zu jenen gehörte, die diese
leidvollen Erlebnisse verursacht hatten. Ich ging mit ihnen.
[…] Sie wohnten nicht schlecht. Ein riesiges zweistöckiges Haus mit luxuriöser Möblierung, prächtiger Innenausstattung und Malereien an Wänden und Decken. Es war eine große Familie. Als unsere Soldaten kamen, wurden alle in den Keller getrieben. Die jüngste der erwachsenen Frauen, und wohl auch die schönste, nahmen sie mit und vergingen sich an ihr. >Sie haben mich hier gestoßen<, erzählte die schöne Deutsche und raffte ihren Rock. >Die ganze Nacht, und es waren so viele. Ich war Jungfrau<, seufzte sie und begann zu weinen. >Sie haben meine Jugend zunichte gemacht. Es gab Alte, voller Pickel, und alle sind auf mich draufgestiegen, alle haben sie mich gestoßen. Es waren über zwanzig, ja, ja<, und sie brach in Tränen aus. >Sie haben vor meinen Augen meine Tochter vergewaltigt<, warf die arme Mutter ein. >Und sie können noch mal wiederkommen und mein Mädchen erneut vergewaltigen.< Diese Worte ließen alle erneut vor Entsetzen zittern, und bittere Schluchzer hallten in dem Keller wieder, in den mich die Bewohner geführt hatten. >Bleib hier!<, bedrängte mich das Mädchen plötzlich, >du wirst mit mir schlafen. Du kannst mit mir machen, was du willst, doch nur du allein!< […] Sie zeigte alles, sie sprach über alles, und nicht, weil sie vulgär war. Ihr Kummer und ihr Leid waren stärker als ihre Scham und ihre Schüchternheit, und jetzt war sie bereit, sich vor den Leuten ganz auszuziehen, nur damit man ihren gequälten Körper nicht anrühren möge, einen Körper, der noch etliche Jahre hätte unberührt bleiben können, damit man nicht anrühren möge, was so plötzlich und grob – […] Das Mädchen umarmte mich, flehte mich an, lächelte mich durch die Tränen über das ganze Gesicht an. Es fiel ihr schwer, mich anzuflehen, doch sie bemühte sich, das gesamte Repertoire einer Frau einzusetzen, und sie spielte ihre Rolle nicht schlecht. Mich, der ich allem Schönen zugetan bin, konnte sie leicht mit ihren glänzenden Äuglein für sich gewinnen, doch es entschied die Soldatenpflicht, die über allem steht, und ich“ – [Hier bricht der Eintrag mitten im Satz ab.] OPFERFEINDLICHE SPRACHE In ihrem Buch „Der verlorene Kampf um die Wörter. Opferfeindliche Sprache bei sexualisierter Gewalt. Ein Plädoyer für eine angemessene Sprachführung“ (Junfermann Verlag Paderborn 2007) weist Autorin Monika Gerstendörfer überzeugend nach, dass wir durch unreflektierten Sprachgebrauch die Gewaltakte sexuell motivierter Täter bagatellisieren und damit die Opfer ein weiteres Mal demütigen und entwürdigen. Einleitend schreibt Monika Gerstendörfer: „Kinderschänder gibt es nicht. Sextouristen gibt es nicht. Kinderpornos gibt es nicht. Sexualmorde gibt es nicht. […] Bei >Kinderpornos< handelt es sich nämlich keineswegs um >gespielte< Sexdarstellungen, sondern um die Bilddokumentation real stattgefundener Misshandlungen bis hin zur Folter. Und ein sogenannter Sexualmord ist nichts anderes als ein Mord nach vorausgegangener physischer und psychischer Folter. […] So ist ein als >pädophil< bezeichneter Mann eben gerade nicht pädophil (Kinder liebend), sondern das krasse Gegenteil davon. […] Wenn also die Wörter, die Begriffe, die Sprachführung im Problembereich der sexualisierten Gewalt dazu beitragen, dass wir die Problematik einfach nicht in den Griff bekommen, ja dass die aktuelle Sprachführung eine gefährliche Waffe ist, die sich vor allem gegen die Opfer wendet, dann ist es unbedingt notwendig, hier auf nachhaltige Änderungen zu dringen.“ Im dritten Kapitel des Buchs geht es um „Krieg und Frieden“, und hier bringt Monika Gerstendörfer nicht zuletzt auch Dinge zur Sprache, die viel mit ANONYMA – EINE FRAU IN BERLIN zu tun haben. Unter der Überschrift „Die Funktionalisierung durch die Politik während des Zweiten Weltkriegs“ schreibt sie: „An den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen in den letzten Kriegs- und den ersten Friedenswochen lässt sich vieles verdeutlichen, auch, dass die Massen vergewaltigungen in Bosnien und anderswo keine Erfindung der Neuzeit sind. Die Vergewaltigungen zum Kriegsende (April/Mai 1945) sind jedoch ein Sonderfall, nicht nur, weil sie >massenhaft< verübt wurden, denn Frauen wurden, wie bereits erwähnt, schon immer als eine Art Beute der siegreichen >Krieger< und Vergewaltigungen als Vergeltungsakte an den Gegnern betrachtet. |
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[…] Die deutschen Frauen hatten keine Chance, all dem zu entgehen, denn im Berlin des April 1945 waren
sie es, die trotz Bombardierungen aus den Schutzräumen gingen, um Nahrung, Wasser u. a. zu besorgen.
Sie kochten sogar auf Holzöfen auf offener Straße und mussten die kranken Männer pflegen. Von den Nazis
wurden sie durch Hetze und Angstmache auf die Vergewaltigungen >vorbereitet<. Im Kampfblatt für die
Verteidigung Berlins hieß es: „’[…] Mit vorgehaltener Waffe zieht diese Soldateska von Haus zu Haus und
stiehlt Uhren und Schmuck, verlangt Schnaps und Zigaretten. Am Abend durchsuchen die innerasiatischen
Wüstlinge die Wohnungen nach jungen deutschen Frauen und Mädchen, schänden sie unter brutalster
Gewalt anwendung.’
Durch solche männlichen Hetzreden wurde unter den Frauen Angst und Panik verbreitet, gleichzeitig wurden die Männer gegen >den bösen Iwan< aufgehetzt. Tatsache ist jedoch, dass es keineswegs nur die Russen waren, die vergewaltigten. Die >Befreier<, also Amerikaner, Briten und Franzosen haben dies ebenfalls getan. Aber die Volksverhetzung durch Goebbels und andere wirkt bis in unsere Tage. Kaum jemand denkt bei den Massenvergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg an die Amerikaner oder gar an die Wehrmachtsbordelle der Deutschen und die sogenannten >Freudenabteilungen< der Nazis, in denen jüdische Frauen, Sintifrauen und andere das erdulden mussten, was vor wenigen Jahren den Frauen im ehemaligen Jugoslawien angetan wurde.“ Eine wenig glorreiche Rolle spielten die – zurückgebliebenen oder später zurückkehrenden – Männer, daran lässt Monika Gerstendörfer keinen Zweifel: „Es ist wichtig, die Frage zu stellen, wie und ob die zum Schutz der Frauen aufgeforderten deutschen Männer sich verhielten. Die Wahrheit ist: Unter Hunderttausenden soll es einige wenige gegeben haben, die für ihre Frauen eintraten und sogar ihr Leben für sie ließen. Die Masse aber verkroch sich hinter den Frauen. Die Herrenmenschen waren also unvorstellbar feige. Äußerungen wie ‚Euch tun sie doch nichts, ihr haltet doch bloß mal still. Aber uns bringen sie nach Sibirien’ sprechen für sich […]. Ein weiterer, todbringender Faktor für Frauen und Mädchen war und ist die sogenannte männliche Ehre. Nicht wenige Männer schickten ihre Frauen und Töchter in den Tod und gaben ihnen noch das Gift dazu oder den Strick. Viele Frauen sollen unter den Vorwürfen der eigenen Männer mehr gelitten haben als unter den Ver - ge waltigern, die sie ja meist gar nicht kannten.“ Fazit: „Vergewaltigung ist eine Erscheinungsform von Krieg, keine Begleiterscheinung.“ Und: „Die allgemeine gesellschaftliche Reaktion auf sexualisierte Gewalt gegen Frauen, auf Vergewaltigung, ist im Krieg nicht so sehr anders als im Frieden.“ Die traurige Statistik: „Die Zahl der Frauen und Mädchen, die in der sowjetischen Besatzungszone, in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und auf der Flucht vergewaltigt wurden, wird auf 1,9 Millionen geschätzt.“ |
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ÜBERLEBENSSTRATEGIEN
Es ist vielleicht einer der größten Vorzüge des Films ANONYMA – EINE FRAU IN BERLIN, dass er das Thema Überlebensstrategien in den Vordergrund rückt und damit zur Diskussion stellt. Das macht ihn auch höchst aktuell. Denn der Zuschauer wird nicht bloß mit einem historischen Stoff konfrontiert, sondern implizit auch darauf hingewiesen, dass unzählige Frauen heute in den Kriegs- und Krisengebieten des 21. Jahrhunderts mit den gleichen Problemen und Traumata zu kämpfen haben. Und vielleicht werden auch Erinnerungen daran wach, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass quasi „vor unserer Haustür“ systematisierte sexuelle Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung war – als der so genannte Jugoslawien-Krieg in den neunziger Jahren des gerade erst vergangenen Jahrhunderts tobte. |
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Eine Verbindung zur Gegenwart schlägt auch Dr. Monika Hauser, Vorstandsfrau von medica mondiale, einem eingetragenen Verein, der traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten unterstützt. In einem Vortrag im August 2006 in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin sprach sie über „Das ewige Tabu“ Vergewaltigung: „Auf der Basis unserer langjährigen Arbeit in den Kriegsregionen, in denen medica mondiale tätig ist, stelle ich eine Verbindung von den Erfahrungen heutiger Überlebender zu den Erfahrungen von Frauen in der deutschen Nachkriegs-Zeit her. Ich behaupte, dass es eine verbindende patriarchale Systematik gibt, welche wahrzunehmen oder aufgezeigt zu bekommen, deutsche, westliche Männer sich mit allen Kräften dagegen wehren, nämlich dass ihre Verhaltens- und Denkschemata partiell beispielsweise zu denen afghanischer Männer durchaus Ähnlichkeiten aufweisen. Sexualisierte Gewalt ist ein ständiger Begleiter vor, während und nach Kriegen, ganz normale Männer nutzen diese grenzenlosen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten – die sie vielleicht in der einschränkenden Normalität des Friedens nie selbst aktiv herstellen würden.“ | |||
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Wie aktuell das Thema ist, zeigt die Tatsache, dass der UN-Sicherheitsrat im Juni 2008 einstimmig die
Resolution 1820 verabschiedet, in der das UN-Gremium alle Kriegsparteien auffordert, „sofort jede Form von
sexueller Gewalt gegen Zivilisten einzustellen und Maßnahmen zum Schutz zu ergreifen.“ In dem Dokument
werden Vergewaltigungen offiziell als „Kriegstaktik“ eingestuft, „die dazu dient zu erniedrigen, zu unter -
drücken und ein Klima der Angst zu erzeugen und Zivilisten oder Mitglieder bestimmter ethnischer Gruppen
gewaltsam zu vertreiben.“ US-Außenministerin Condoleezza Rice, unter deren Leitung der UN-Sicherheitsrat
tagte, nennt als Beispiele die Republik Kongo (32.000 gemeldete Fälle von sexuellen Übergriffen in der
Provinz Süd-Kivu), die westsudanesische Krisenregion Darfur sowie Burma: „Vergewalti gung ist ein in keinem
Fall entschuldbares Verbrechen. Wir haben eine ganz besondere Verantwortung, die Täter von sexueller
Gewalt zu bestrafen.“ Indirekt drohte der UN-Sicherheitsrat damit, die Schuldigen vor das Internationale
Strafgericht in Den Haag zu bringen, denn in der Resolution wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass
Vergewaltigungen und andere Formen der sexuellen Gewalt als „Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit oder Bestandteil des Völkermordes“ geahndet werden können.
Doch bedauerlicherweise geht es nicht nur um Kriegszeiten. Gerade auch nach Kriegen oder Pogromen liegt der allgemeine Gewaltpegel im Alltagsleben in der Regel wesentlich höher als zuvor, und Frauen und Mädchen bekommen dies besonders zu spüren. „Die Mitarbeiterinnen der Frauennotrufe und Frauen - beratungs stellen wissen nur zu gut, dass Vergewaltigungen auch in Friedenszeiten Bestandteil vieler Kulturen und Gesellschaften sind. Sie sind weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten sexuell motiviert, sondern Sexualität wird zur Ausübung von Macht instrumentalisiert. Die betroffenen Frauen und Mädchen bleiben mit den tiefgreifenden Folgen fast immer alleine“, heißt es in einer Pressemitteilung des Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe vom Juli 2008. Beispiele findet man, wohin auch immer man blickt. Nach der Terrorherrschaft der Roten Khmer stellen Be - obachter in Kambodscha im Sommer 2004 fest, dass Beteiligungen an Gruppenvergewaltigungen bei männ - lichen Jugendcliquen der Unter- und Mittelschicht geradezu die Norm sind. Sie „besorgen“ sich ein Mädchen und bringen es in eine Absteige, wo dann die Freunde auftauchen, wenn sie nicht schon dort gewartet haben, und alle zusammen vergewaltigen das Mädchen. Unrechtsbewusstsein fehlt den Jugendlichen völlig. Und wer nicht mitmacht, läuft Gefahr, sein Gesicht zu verlieren oder aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Ähnliche Probleme – ganz abgesehen von der rasant zunehmenden Anzahl an Aids-Kranken – findet man in Südafrika. Im Jahr 2004 werden dort offiziell 55.000 Vergewaltigungen registriert. Inoffizielle Schätzungen aber besagen, dass die wahre Zahl der Opfer etwa zwanzigmal (!) höher liegt. Das würde bedeuten, dass in Südafrika alle 23 Sekunden eine Frau vergewaltigt wird. Und: In Kapstadts Groote-Schuur-Krankenhaus für Vergewaltigungsopfer schätzt man, dass es sich bei etwa 75 Prozent aller sexuellen Übergriffe um Gruppen - vergewaltigungen handelt. Kambodscha und Südafrika sind weit weg – doch auch Deutschland ist betroffen, wenn man ein kurzes Schlaglicht auf den Frauen- und Kinderhandel wirft. Nach Schätzungen der International Organization for Migration (IOM) werden jährlich weltweit über eine Million Frauen und Kinder verkauft: „Eine Diktatur wie die Republik Weißrussland >exportiert< an die 10.000 Frauen und Mädchen pro Jahr, in der gleichen Zeit importiert selbst ein demokratischer Staat wie Deutschland schätzungsweise 50.000 Frauen und Kinder.“ Dies ist nachzulesen unter: http://www.eurozine.com/articles/2005-10-28-csmith-de.html Szenenwechsel zurück in die Vergangenheit: Bis heute vollkommen tabuisiert worden ist die Tatsache, dass bei der Besetzung Berlins auch halbwüchsige Jungen vergewaltigt worden sind. Die Psychologin Monika Gerstendörfer meint dazu: „Bei sexualisierter Gewalt geht es ja immer vor allem um die Auslöschung dessen, was einen Menschen ausmacht; durch seine/ihre vollständige Demütigung. Im Krieg dient diese Form der Gewalt zur totalen und kollektiven Demütigung des Gegners. Auf beiden Seiten natürlich… Das >Besitzstück Frau< wird dem Gegner so genommen. Sie sind ab da >Geschändete<, womöglich noch vom Gegner geschwängert; Stichwort: Genozid durch Femizid. Was insbesondere halbwüchsige Jungen angeht, so dürften das Muster und die Absicht ähnlich sein. Halbwüchsige sind ja die Nachkommen der Männer des Gegners, also die potenziellen Neu-Gegner und die potenzielle neue Generation. Wenn man die ebenfalls demütigt – und das funktioniert über sexualisierte Gewalt eben am besten – dann hat man eine ganze Generation (die Mädchen, die Frauen allen Alters und noch die heranwachsenden Jungen) nachhaltigst geschä digt. Bei Jungen führt erlebte sexualisierte Gewalt ja zum Mythos der >Entmännlichung<… Dies gilt für die Außenwelt, aber auch für das eigene Erleben. Und in der Tat reden die meisten Opfer nicht, weil sie sich aus Unkenntnis nach solchen Gewalttaten fragen, ob sie eventuell schwul (also keine >richtigen Männer) sind. Dabei sind sie nur nicht aufgeklärt und wissen nicht, dass die Analvergewaltigung bei Jungen und Männern via sensorischem Automatismus zu einer Erektion führt. Letztere hat mit >sexuellem Erleben< gar nichts zu tun, wird aber fehl-attributiert, aus Unwissen. Will heißen: wieder stehen wir hier vor der fatalen Vermischung der Kategorien >Sexualität< und >Gewalt< …“ In der Zeit vor, während und nach der Besetzung Berlins waren die Männer den Frauen keine große Hilfe. Das konnten sie auch gar nicht sein. Zum einen muss man die demographischen Daten beachten. Von den vormals (im Jahr 1939) 4,3 Millionen Einwohnern waren nur noch maximal 2,8 Millionen vorhanden. Zwei Drittel davon sind Mädchen und Frauen jeglicher Altersstufe. Das männliche Drittel der Zivilbevölkerung sind Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 16 und Männer ab 60 Jahren. So lag die Beschaffung von Wasser, Lebensmitteln, Kleidung und Brennmaterial weitgehend in den Händen der Frauen, die sich dabei oft in Lebensgefahr begaben. Man darf nicht vergessen, dass in den elf Wochen, bevor die Rote Armee Mitte April ihre Landoffensive gegen Berlin startete, 85 Luftangriffe von meist amerikanischen und britischen Verbänden geflogen worden waren, bei denen 200.000 Menschen entweder ums Leben kamen oder zur Flucht aus der Stadt veranlasst wurden. Auch Anonyma befasst sich in ihrem Tagebuch in langen Passagen ausführlich mit den Problemen, die das Beschaffen der allernötigsten Dinge für das tägliche Leben mit sich brachte. Nach dem Ende des Krieges besserte sich die Situation der Frauen, aber auch die der Männer nur langsam. Im April 1947, also zwei Jahre nach der Schlacht um Berlin, gaben die Außenminister der Alliierten bekannt, dass sich noch folgende deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft befanden: 30.967 bei den Amerikanern, 435.295 bei den Briten, 631.483 bei den Franzosen, 890.532 bei den Sowjets. Die letztere Zahl schockierte besonders: man war bis dahin von bis zu drei Millionen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion ausgegangen. Und wenn die Männer dann heimkamen – was für Männer waren das! Im wahren Sinne des Wortes an Leib und Seele gebrochen. Dass dies manche keineswegs daran hinderte, ihren Frauen eine Mitschuld an den Geschehnissen (sprich: Vergewaltigungen) zu geben, wurde bereits erwähnt. Die letzten Kriegsgefangenen kamen Ende 1955 in die Bundesrepublik zurück – man nannte sie (wie alle, die erst ab 1947 freigelassen wurden) „Spätheimkehrer“. Per Gesetz wurden ihnen pro Gefangenschaftsmonat 30 Deutsche Mark Entschädigung zugesprochen. |
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Man könnte es auch so sagen: Es waren in erster Linie die Frauen, die die Grundlagen für das geschaffen haben, was man in den sechziger Jahren das Wirtschaftswunder nannte. Denn die Lektionen in Sachen Überlebensstrategien, die sie während des Krieges und in der Nachkriegszeit lernen und anwenden mussten, werden sie ihr Leben lang nicht vergessen haben. | |||
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FILMPÄDAGOGISCH-METHODISCHE VORSCHLÄGE ZUR ARBEIT MIT „ANONYMA – EINE FRAU IN BERLIN“ THEMEN/LEHRPLANBEZÜGE, AB KLASSE 10: | |||
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DEN KINOBESUCH VORBEREITEN
„Jetzt gehört alles allen.“ – 7 Tage im Leben von Anonyma, Situations - beschreibung vom 20. bis 27. April 1945 in Berlin | Einen unbekannten Text als historische Literaturquelle erfassen, Arbeitstechniken einüben wie z. B. Gedankengänge zusammenfassen oder wichtige Textstellen anführen, das Tagebuch als sprachliches Mittel erkennen und bewerten, Inhalt historisch in die letzten Kriegstage des 2. Weltkrieges und die Befreiung Berlins durch die sowjetische Armee einbetten Anonyma bezeichnet ihre ca. zweimonatigen Aufzeichnungen als „Versuch eines schriftlichen Selbst - gesprächs“, eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedacht. Talentiert im Schreiben, nutzt sie diese Fähigkeit, um ihre Grenzerfahrungen dieser Extremsituation zu verarbeiten. Lediglich ihr Mann Gerd würde die Hefte vielleicht zu Gesicht bekommen. Dieser authentische Bericht unterscheidet sich damit von der bekannten Kategorie „Trümmerliteratur“ oder „Kahlschlagliteratur“ (Borchert, Böll, Gruppe 47). |
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Das Erlebte, die lebensbedrohende Realität verändert die Sprache. Sie wird härter, konkreter ohne aus
vorhandener Erziehung und Bildung auszubrechen.
Der Krieg hinterlässt äußerliche und innerliche Spuren: ausgebrannte Häusergerippe, Straßen wie Mond - landschaften; Sprachlosigkeit, starre Mimik und Blicke, Verängstigung, Schlaflosigkeit, abnormes Verhalten. Hunger, Not, Elend, Verrohung, Verzweiflung, sich mitschuldig zu fühlen, allein durch die Tatsache des Über - lebens, sind elementare menschliche Empfindungen, die Filmbilder widerspiegeln und an Aktualität nichts eingebüßt haben. Aufgabe: |
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DEN KINOBESUCH NACHBEREITEN
Die filmische Interpretation ermöglicht eine konkretere Ausschmückung der erzählten Ereignisse und reduziert gleichzeitig das Geschehen auf prägnante Momente und Aktionen. Ein ausgewählter Personenkreis wird an einem abgesteckten Ort zu einer konkreten Zeit in Szene gesetzt. Gerade in Zeiten der Sprachlosigkeit wie im vorliegenden Buch beschrieben, fangen Bilder die reduzierten Worte auf, verdeutlichen dem Zuschauer die Gefühlslage ihrer Hauptakteure, in einigen Sequenzen fast als Kammerspiel, wie z. B. in den Szenen nach Heimkehr der Männer. „Es begann mit Stille.“ – Tag der Katastrophe. Die Filmhandlung | Aspekte des Inhalts und der Handlungsführung untersuchen, z. B. Haupthandlung, Nebenhandlungen, Handlungs - träger, die Erzähltechnik und die Umsetzung durch filmische Mittel ergründen Aufgabe: |
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„Nichts soll mich mehr berühren!“ – Überlebensstrategien in einer
Extrem situation | Die Phasen menschlicher Überlebensstrategien an einem konkreten Beispiel
erfassen und reflektieren, die Veränderung von moralischen und Wertevorstellungen unter geschlechts -
spezifischen Gesichtspunkten erkennen und kommentieren, in Schlagzeilen über eine mediale Form Frauenund
Männerstandpunkte äußern und diskutieren
Die sonst üblichen Anpassungsmuster, Wertvorstellungen und Abwehrmechanismen brechen in einer Extremsituation wie die zu Zeiten eines verheerenden Krieges zusammen. Ein Mensch kommt an die Grenzen seiner physischen und psychischen Belastbarkeit. Ohnmacht, irrationale Gefühle, Depression, aber auch Aggression, der Wille zum Überleben, die Suche nach Trost, Geborgenheit und emotionaler Stabilisierung, die Kunst vieles zu verdrängen (siehe auch das Stockholm-Syndrom), verändern persönliche Einstellungen, private Bindungen und gesellschaftliche Bezüge. |
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Die gesellschaftliche Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern war längst aus den Fugen geraten, auch wenn offiziell patriarchalische Denkweisen vorherrschten. 1949 wurde im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Artikel 3, Absatz 2 die Gleichberechtigung von Mann und Frau verankert. Erst 1957 wurde das Familiengesetz geändert und damit die Erwerbsbeschränkungen für verheiratete Frauen und der Numerus Clausus für Studentinnen, der seit 1934 bestand. | |||
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„Was soll das zum Beispiel heißen? … „Schdg“ – Tabus brechen (sich mit sozialen Normen des Zusammenlebens auseinandersetzen, die Frage von Tabus in der Gesellschaft für sich selbst bestimmen, begründen und nachvollziehbar vertreten) Anonyma: „ Tja, mit dem wilden Drauflosschänden der ersten Tage ist es nichts mehr. Die Beute ist knapp geworden. Und auch andere Frauen sind, wie ich höre, inzwischen genau wie ich in festen Händen und Tabu. … Womit ich die Frage aber noch nicht beantwortet habe, ob ich mich nun als Dirne bezeichnen muss, da ich ja praktisch von meinem Körper lebe und für seine Preisgabe Lebensmittel beziehe. … Es ist immerhin ein altes, ehrwürdiges Gewerbe und reicht hinauf bis in die höchsten Kreise. …“ (aus: Anonyma – eine Frau in Berlin) |
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Frauen wie Anonyma, die trotz Demütigung und Zerstörung ihrer Persönlichkeit versuchten, den Respekt vor
der eigenen Person und ihre Selbstachtung zu bewahren, stellten die Minderheit dar. So wundert es nicht,
dass die Autorin bis zu ihrem Tod verfügte, nicht benannt zu werden. Solche Tabus, generell Tabus zur
Thematik „Drittes Reich“ zu brechen, ist auch heute noch ein gewagtes Unterfangen. Doch es ist wichtig,
Bilder auf- und wahrzunehmen, die nachdenklich machen und bei denen oftmals weggesehen wird, weil
menschlich Erschreckendes gezeigt wird.
Aufgabe: |
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Auch der Beitrag von Claudia Schmölders (siehe Tipps) geht auf die Problematik menschlicher Ethik ein und kann hier herangezogen werden. In einem Pro- und Contra-Gespräch wird das ausgewählte Tabu erörtert und schriftlich ein gemeinsames Statement verfasst, um es auf den vorhandenen Blog zu stellen. | |||
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© Constantin Film