Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.05.2020, Nr. 109, S. 12 Erlebt Russland eine neue Archivrevolution?
Paradoxe Geschichtspolitik: Zuvor verheimlichte Dokumente werden zugänglich Von Oleg Budnitzki VERHEIMLICHTE DOKUMENTE Paradoxe Geschichtspolitik: In den letzten zwei Dekaden öffnete das russische Verteidigungsministeriums
einen Teil seiner Archive. Setzt sich diese Revolution gegen die Geheimhaltung nun fort? Ein Gastbeitrag. Berlin,
1945: Sowjetischer Panzer rollen durch die Stadt. Auch über sieben
Dekaden später zeigen Umfragen, dass den meisten Russen glauben,
die „Wahrheit“ über den Krieg nicht zu kennen.
Als die amerikanische Historikerin Nina Tumarkin 1994 ihr Buch "The Living and the Dead: The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia" über den Kult des Zweiten Weltkriegs in Russland veröffentlichte, ahnte niemand, dass der Große Vaterländische Krieg, wie er in Russland genannt wird, im 21. Jahrhundert einen noch wichtigeren Platz im historischen Gedächtnis der Russen einnehmen würde als zu sowjetischen Zeiten. Der Krieg ist ein entscheidendes Element der staatlichen "Politik des Gedenkens" geworden. Das Verhältnis zum Krieg wurde zu einer Art Glaubensbekenntnis und der Tag des Sieges über Nazi-Deutschland zur religiösen Feier, die die Gesellschaft einen soll. Umfragen zeigen, dass den meisten Russen dieser Sieg wirklich wichtig ist und sie stolz macht, dass sie aber auch glauben, die "Wahrheit" über den Krieg nicht zu kennen. In den nuller Jahren und besonders im letzten Jahrzehnt hat sich aber eine kleine "Archivrevolution" ereignet, bei der insbesondere das Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums, eigentlich eine Bastion der Geheimhaltung, als Pionier auftrat und viele digitalisierte Dokumente allgemein zugänglich machte. Das ist zum einen eine Folge der staatlichen Politik des Gedenkens, es kommt aber auch der Öffentlichkeit entgegen. Und gerade in unserer Quarantäne-Zeit ist für Historiker, aber auch für alle, die sich für den Zweiten Weltkrieg interessieren, der Online-Zugang zu Dokumenten hochwillkommen. 2007 wurde auf Weisung des Verteidigungsministeriums die Datenbank "Memorial" (nicht zu verwechseln mit der historischen und Menschenrechtsgesellschaft gleichen Namens, die zum "Ausländischen Agenten" erklärt wurde, F.A.Z.) geschaffen, die Informationen über getötete oder vermisste Armeeangehörige enthält und ständig vervollständigt wird. Derzeit umfasst "Memorial" etwa siebzehn Millionen Digitalkopien über die Verluste der Roten Armee während des Zweiten Weltkriegs, darunter auch über erste Grabstätten von mehr als fünf Millionen Soldaten. Die Archivare, die auch die Akten der Sanitäter und Medizinischen Bataillone über Verwundungen digitalisieren wollen, melden, sie hätten die Namen von einer Million von Häftlingen in Lagern der Nationalsozialisten rekonstruiert. Da sich deutschen Quellen zufolge mehr als vier Millionen Sowjetbürger in den Lagern befanden, haben sie freilich noch viel Arbeit vor sich. Außerdem hat das Verteidigungsministerium eine elektronische Datenbank über "Die Heldentaten des Volkes während des Großen Vaterländischen Krieges" eingerichtet mit digitalisierten Dokumenten über militärische Auszeichnungen während des Zweiten Weltkriegs. Sie enthält 12,5 Millionen Einträge über die Zuerkennung von Orden und Medaillen und dient der militärisch-patriotischen Erziehung der Jugend am Beispiel der Väter sowie als Faktengrundlage für die Abwehr von "Versuchen, die Geschichte des Krieges zu fälschen". Das sowjetische System der Ehrungen unterschied sich von dem der anderen Kriegsparteien durch die große Zahl der Orden - es waren zwölf, einige in zwei oder drei Klassen -, die nach dem katastrophalen ersten Kriegsjahr 1942 eingeführt wurden, um Soldaten zu motivieren und sie für materielle Not zu entschädigen. Sie bescherten auch finanzielle Zuwendungen, die aber 1947 wieder eingestellt wurden. Die Sowjetunion verlieh Ehrungen nicht für eine bestimmte Frist an der Front oder die Teilnahme an einer Operation, sondern für eine individuelle Heldentat, die im Verleihungsdokument geschildert wird. So wurde Oberstleutnant Leonid Winokur, der bei der Gefangennahme von General Paulus die Schlüsselrolle spielte, für seine Kühnheit und "bolschewistische Findigkeit" zum Helden der Sowjetunion vorgeschlagen. Winokur war zu Paulus vorgedrungen und hatte ihn im Beisein bewaffneter Offiziere dreist aufgefordert, sich zu ergeben - mit Erfolg. Ein einfacher Soldat, der bei Kursk verletzt wurde, rettete mit letzter Kraft seinen ebenfalls verletzten Minenhund. Für seine "Liebe zur Militärtechnik" bekam er ein Medaille. Auch bisher geheim gehaltene Angaben über Nationalitäten in der Roten Armee werden öffentlich. Ein Anlass dafür war möglicherweise die Erklärung des polnischen Außenministers Grzegorz Schetyna 2015, die Ukrainer hätten Auschwitz befreit. Prompt machte das Verteidigungsministerium Informationen zur nationalen Zusammensetzung der 60. Armee der Ersten Ukrainischen Front zugänglich, die zeigen, dass in ihr 38 Nationalitäten vertreten waren - wobei die Russen mit 42 000 und die Ukrainer mit 38 000 die zahlreichsten waren. Akten über die Zusammensetzung der Roten Armee sind heute einsehbar - allerdings muss man dazu ins Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums nach Podolsk fahren. Als unser Zentrum für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs über eine Moskauer Volkswehrdivision arbeitete, die später zu den Gardeeinheiten gehörte und über Königsberg bis nach Pillau vorrückte, wurden zudem 1200 Blätter der politischen Verwaltung der Roten Armee zugänglich gemacht. Es handelt sich um Berichte der Politoffiziere über Soldaten, die etwa angesichts des Überraschungsangriffs und der Erfolge des Gegners an der Kompetenz ihres Oberkommandos zweifelten. Aus dem Präsidentenarchiv, dem früheren Archiv des Politbüros, wurde Material über die Partisanenbewegung öffentlich gemacht. Freilich bleiben viele wichtige Dokumente zur Wirtschafts- und Finanzgeschichte sowie die soziale und die Repressionsgeschichte des Krieges unzugänglich. Dabei sind alle gesetzlichen Geheimhaltungsfristen abgelaufen. Die Öffnung der Archive bringt natürlich nicht die "Wahrheit" über den Krieg zutage. Die Verfasser der Dokumente verfolgten ihre Interessen und waren oft bemüht, Fakten zu unterschlagen oder zu verfälschen. Doch neben einer "Archivrevolution" findet in Russland auch eine "Gedächtnisrevolution" statt. Zahlreiche neue Memoirenbücher über den Krieg haben aus der früheren Erzählung von "Göttern und Helden" eine irdisch-menschliche gemacht. Die in ihrer Illusionslosigkeit geradezu grausamen Kriegs- und Nachkriegstagebücher der Leningrader Schriftstellerin Olga Berggolz, die durch ihre Blockade-Gedichte und als Radiostimme legendär wurde, fanden großes Echo. Die naiv offenen und dadurch wertvollen Kriegstagebücher des jüdisch-ukrainischen Offiziers Wladimir Gelfand, die unser Zentrum erstmals in einer vollständigen wissenschaftlichen Ausgabe herausbrachte, sind ein Bestseller. Aus dem Russischen von Kerstin Holm. Der Historiker Oleg Budnitzki leitet das Internationale Zentrum für die Geschichte und Soziologie des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen an der Moskauer Wirtschaftshochschule. |
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