Von Ulrich Lampen | ||
(Produktion: SWR 2005 - Ursendung), ca. 90 Min. | ||
Länge CD I: 64ʹ02˝ 29,6 MB | ||
Länge CD II: 30ʹ00˝ 13,8 MB | ||
Gesamtlänge: 94ʹ02˝ | ||
Regie: | Ulrich Lampen | |
Musik: | Michael Riessler | |
Sprecher: |
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Anonyma | Christiane von Poelnitz | |
Wladimir Gelfand | Paul Herwig | |
Sowie mit O-Tönen von: | ||
Katharina Döbler | Publizistin und Kritikerin | |
Elke Scherstjanoi | Historikerin und
wissenschaftliche Mitarbeiterin |
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Wolfgang Hörner | Leiter des Eichborn-Verlages Berlin | |
Wolfram Wette | Professor
für Neueste Geschichte der |
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Ton | Daniel Sender | |
Regieassistenz | Mark Ginzler | |
Musik | Michael Riessler | |
Regie | Ulrich Lampen | |
Dramaturgie | Friederike Roth | |
Schnitt | Waltraud Gruber |
Mai 1945: Berlin wird fallen; der Krieg wird zu Ende gehen. Zwei
Menschen
berichten in ihren Tagebüchern über die Zeit kurz
vor, während und nach der
Kapitulation. Während der Rotarmist Wladimir Gelfand mit einer
der ersten, in
Berlin einmarschierenden Divisionen von Osten kommend auf die Stadt
zurückt,
erlebt Anonyma auf der Seite der Besiegten das Kriegsende in Kellern
und
unterschiedlichen Wohnungen. Ihre sich gegenseitig ergänzenden
Berichte, werden
ständig von den Ereignissen überrollt und behaupten
sich dennoch als Splitter
dieser Zeit. Warum stoßen diese Texte erst fast 60 Jahre nach
ihrem Entstehen
auf so großes öffentliches Interesse? Im Kontext der
Zeitzeugen sollen in
diesem Hörspiel die Zeugen der Textgenese hierüber
Auskunft geben.
"BERLIN
45" Tagebücher der Anonyma und des Rotarmisten SWR-2 ● Radio ART ● CD I ● Südwestrundfunk |
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Wladimir
Gelfand ist ein
ukrainischer Jude, ein jüdischer Ukrainer, der in einem
Industriegebiet
aufwächst. Er interessiert sich für Literatur, er
liest viel. Anonyma
war eine Frau,
von der man den Namen offiziell nicht weiß. Eine
Frau, die als
Journalistin gearbeitet hatte vor dem Krieg und die nun in Berlin diese
letzten
Wochen erlebt hat als Zeugin mit Körper, Seele, mit all ihrer
Aufmerksamkeit
und die diese ganzen Dinge, die da geschehen sind, auch mit ihr
geschehen sind,
niedergeschrieben hat. Dann
auch eine lange
Zeit, nachdem sie zum ersten Mal auf Deutsch erschien, 1959, gar nicht
mehr
wollte, dass die veröffentlicht werden und erst nach ihrem
Tode wieder eine
Druckfassung haben wollte. Wir haben uns deshalb an den Wunsch der
Autorin
gehalten und ihren Namen nicht genannt. Er
ist zu diesem
Zeitpunkt Leutnant der Roten Armee. Er hat einen Offizierskurs besucht.
Er ist
ein sehr sensibler Mensch, ein politischer Mensch. Er nimmt aktiv am
politischen Leben seiner Einheit teil. Er verfasst
Flugblätter. Er ist Autor
von Artikeln für Wandzeitungen. 13.01.1945 Freitag,
20.04.1945, 16 Uhr 14.01.1945,
4:50
Uhr morgens Gegen
drei Uhr fuhr am Kiosk der Zeitungsfahrer vor. Es lauerten ihm schon
zwei
Dutzend Leute auf. Im Weitergehen las ich als erstes den
Wehrmachtsbericht. Neue
Ortsnamen: Müncheberg, Seelow, Buchholz. Klingt verdammt
märkisch und nah. Man
hat Frühstück gebracht. Viel. Es ist heiß,
schmeckt aber nicht. Eine Suppe aus
Weizen oder Perlgraupen. Mir hängen diese Graupen
dermaßen zum Hals heraus,
dass ich sie nicht mal erwähnen will. Jetzt,
wo alles weg ist und mir nur ein Handkoffer mit Kleiderkram bleibt,
fühle ich
mich nackt und leicht. Weil ich nichts mehr habe, gehört mir
alles. Zum
Beispiel diese fremde Dachwohnung. Der
Deutsche ist ein Vollidiot und feuert. Soll er doch
ruhig. Unsere
Aufklärer werden anhand der Blitze seine Feuerstellung
ausmachen und dann wird
dort nichts mehr stehenbleiben. Ich
finde keine Ruhe hier oben, trabe immer fort durch die drei
Räume. Systematisch
habe ich alle Schränke und Schübe nach Brauchbarem
abgesucht, d.h. nach
Essbarem, Trinkbarem, Brennbarem. Leider fast nichts gefunden. 18.01.1945 Zwei
Stunden später. Das Gas brennt mit sterbendem
Flämmchen. Seit Stunden stehen
die Kartoffeln darauf. Eine davon habe ich halbroh geschluckt. 19.01.1945 Hab
bei Bolle die hellblauen Milchmarken eingelöst, die Gerd mir
zu Weihnachten
geschickt hat. Es war höchste Zeit. Die Verkäuferin
schöpfte schon aus schräg
gehaltener Kanne und sagte, nun komme keine Milch mehr nach Berlin. Das
heißt
Kindertod. Ich
habe mir das Allerwichtigste beschaffen können. Papier. Jetzt
habe ich auch
etwas, worauf ich schreiben kann. Heute
Morgen beim Bäcker ging das Gerede. Wenn die kommen, holen sie
alles Essbare
aus den Häusern. Die geben uns nichts. Der
Kompaniechef ist ein Rotzbängel. Bei Schickin waren zwei
Männer
zurückgeblieben. Mehrere Tage lang waren sie verschwunden. Mir
waren zwei
einige Stunden lang abhandengekommen, tauchten dann aber wieder auf.
Doch er
drohte mir sofort. Ich erschieß dich im nächstbesten
Gefecht. Sechzigjährige
Kreisin geschändet. Ordensschwester vierundzwanzigmal
vergewaltigt. Wer zählt damit?
Das sind so die Schlagzeilen. Sollen sie etwa die Männer
Berlins anstacheln,
uns Frauen zu schützen und zu verteidigen? Lachhaft. 21.01.1945 Die
Polen, die ins Protektorat evakuiert wurden, haben ihre Höfe
verloren. Die
Deutschen hielten das für ihr eigenes und nicht für
polnisches Gebiet und
siedelten dort Leute ihrer Herrenrasse an. Wir haben also jetzt schon
Gebiete
durchquert, wo Deutsche gelebt haben. Das
Radio ist seit vier Tagen tot. Wieder mal merkt man, was für
zweifelhafte
Sachen uns die Technik beschert hat. Sie haben keinen Wert an sich. Wir
sind zurzeit
auf dem Rückmarsch in vergangene Jahrhunderte.
Höhlenbewohner. Bereits
1941, als die Deutschen noch Siege feierten, war ein Deutscher
öffentlich
erschossen worden. Dieser war wohl ein weitsichtiger Mensch und hatte
seinen
Landsleuten offen gesagt, Russland werden wir nicht besiegen. Er wurde
als
Verräter erschossen und verbrannt. Gegen
22 Uhr fielen hintereinander drei oder vier Bomben. Gleichzeitig heulte
die
Sirene los. Kein Licht. Endlich,
hinter einer zentnerschweren, mit zwei Hebeln
verschließbaren, gummigeränderten
Eisentür, unser Keller. Amtlich Schutzraum geheißen.
Von uns Höhle, Unterwelt,
Angstkatakombe, Massengrab genannt. Ich
gehöre nun seit fast drei Monaten dazu und fühle mich
trotzdem noch fremd. Jeder
Keller hat andere Tabus, andere Ticks. Hier
im Keller haben sie den Mauertick, alle sitzen sie mit dem
Rücken gegen die
Außenmauer. Bumst es, so kommt der Tüchertick hinzu.
Ich weiß nicht, wogegen
der Lappen helfen soll. Das
Benehmen der Soldaten ist unerhört. Nicht nur, dass sie
stehlen und die Pferde
wegnehmen, sie bringen es sogar fertig, die Wohnung zu
durchwühlen und
Fahrräder und anderes Eigentum zu rauben, Schweine,
Kühe und so weiter. Die
Leute, die uns von ganzem Herzen freundlich gesonnen sind, begegnen uns
nach
diesen Raubzügen mit Misstrauen. Ja, manchmal feindselig. Ich
schaue mich um, notiere, die Bäckersfrau voran, zwei feiste
rote Bäckchen
unterm Lammfellkragen, die Apothekerwitwe, die einen Samariterkurs
absolviert
hat und manchmal hier unter den anderen Frauen auf zwei
zusammengestellten
Stühlen die Karten legt, mir gegenüber, in Decken
eingewickelt, ein fiebrig
schwitzender älterer Herr, Kaufmann von Beruf. Ihm zur Seite,
seine Gattin, die
Hamburgisch spitz spricht, und die 18-jährige Tochter,
ausgerechnet Stinchen
gerufen. Ich selber, blasse Blondine, stets im selben zufällig
geretteten
Wintermantel, in einem Verlag angestellt, bis dieser vorigen Woche sein
Ladenschloss
und den Angestellten bis auf Weiteres freigab. Sie
sitzt in einer
ausgebombten Wohnung, hat ein Heft gefunden, zufällig,
kostbares, kostbares
Papier, und da sitzt sie und schreibt in diesen Minuten, manchmal
halben
Stunden, die ihr bleiben, dann zieht sie sich in irgendeine Ecke
zurück und
schreibt nieder, was passiert ist. Von
der ersten
Zweigenfassung von den Tagebüchern zu dem Typoskript, da hat
sie eben aus
Stichworten und Notizen zum Teil Formulierungen gemacht, da hat sie
aufgefüllt,
was sie noch erinnert hat, was vielleicht auch gar nicht in den
Tagebüchern
drin steht. Es gab eine große Debatte drum, sind diese
Aufzeichnungen denn
authentisch, sind das auch ihre? Das ist unstrittig, denn sie hat
sowohl
sämtliche Buchausgaben als auch diese Version jetzt, die ganz
leicht nur
abweicht von der ersten deutschen Ausgabe von '59. Sie hat die alle
autorisiert
und gesagt, ja, das ist mein Buch. Von
dem Gelfand ist zu
sagen, dass er kurzzeitig an direkten Frontkämpfen
teilgenommen hat und in
dieser Zeit auch wenig niedergeschrieben hat, sondern immer dann, wenn
Ruhepausen waren. Es
gab kein offizielles
Verbot, ein Tagebuch zu schreiben. Schwierig war natürlich die
organisatorische
Seite. Wann findet man Zeit, wo findet man Material, wie transportiert
man ein
Tagebuch, wie schleppt man so viel Tagebuch mit sich herum, wenn man
tatsächlich im Schützengraben steht? Der
Authentizitätsgrad
ist derart, dass die Niederschrift und das Ereignis häufig nur
ein paar Tage
auseinander liegen. Nichts
in diesem Tagebuch
deutet darauf hin, dass er irgendeine Formulierung mit Bedacht
gewählt hat,
weil er meinte, sie müsste irgendeinem Fremden klar sein. Er
hat für sich
geschrieben. Ende Januar
1945 Kein
Strom. Am Balken über mir blagt die Petroleumlampe.
Draußen dickes Gebrumm,
anschwellend. Der Tüchertick tritt in Tätigkeit. Ein
jeder windet sich das
bereit gehaltene Tuch um Nase und Mund. Ein gespenstischer
Türkenharem. Eine Galerie
halbverhüllter Totenmasken. Nur die Augen leben. Bis
Posen sind es noch neunzig Kilometer. Die jungen Frauen schenken uns
ihre
Aufmerksamkeit und begrüßen begeistert ihre Befreier. Samstag, 21.
April 1945, zwei Uhr nachts Ich
schreibe. Es tut gut. Lenkt mich ab. Und Gerd soll es lesen, falls er
wiederkommt. Falls er überhaupt noch. Nein. Ausgestrichen. Man
darf es nicht
heraufbeschwören. 26. Januar
1945 Kurz
nach drei kam die Entwarnung. Ich zog Kleid und Schuhe aus und fiel ins
Bett,
das ständig aufgeschlagen ist. Fünf Stunden
Tiefschlaf. Das Gas streikt. 28. Januar
1945 Damit
haben wir in zwei Tagen 90 Kilometer geschafft. Deutschland hat uns
unwirtlich
empfangen, mit Schneegestöber, heftigem Wind und leeren, fast
ausgestorbenen
Dörfern. Die Leute hier, die Deutschen, fürchten den
Zorn der Russen. Sie
fliehen und lassen all ihr Hab und Gut zurück. Hab
soeben mein Bargeld gezählt. 452 Mark. Mir
ist, als könnte das Zeug allenfalls noch als Andenken gelten.
Als Bildchen aus
versunkenen Zeiten. Die
Grenze erreichten wir an einem sehr breiten, wasserreichen Fluss. Auf
der anderen Seite nichts als Wälder und Hügel.
Durchschnittenes Gelände. Nicht
weit von Berlin. Deutschland steht in Flammen. Und es stimmt ein,
irgendwie
froh, diesem bösen Schauspielball beizuwohnen. Tod um Tod,
Blut um Blut. Mir
tun diese Menschenhasser, diese Tiere, nicht leid. Unendlicher
Regen. Bin zu Fuß in die Parkstraße marschiert und
hab mir zu meinen
Papierbildchen noch ein Packen hinzugeholt. Der Prokurist zahlte mir
den
letzten Monatslohn und erteilte mir Urlaub. Der ganze Verlag hat sich
in Luft
aufgelöst. 30.01.1945 Niemand
verbietet uns, den Deutschen das zu nehmen und zu zerstören,
was sie zuvor bei
uns geraubt haben. Habe
mich mit Geld eingedeckt. 70.000 Deutsche Mark. Zwischen dem deutschen
Geld
fand ich auch 10 sowjetische Rubel. Ich bin überaus zufrieden.
Hab
im Bäckerladen Brötchen gekauft. Noch sind die Borde
scheinbar voll. Man sieht
keine Kaufangst. Ging
hinterher zur Kartenstelle. Heute war mein Buchstabe für die
Abstempelung der
Kartoffelabschnitte 75 bis 77 dran. Wozu eigentlich diese Stempel Ei?
Keiner
weiß es. Doch alle gehen hin, nehmen an, dass es schon
irgendeinen Sinn hat. 03.02.1945 Nachts
war ich damit beschäftigt, die Taschen von
überflüssigen Beutekrempeln zu
befreien. Man kann ja nicht alles mitschleppen. Die
Deutschen haben Angst, sind feige. Irgendwie sind sie alle dumm und
beschränkt,
wie Götzen. Was ich bei all dem, was ich früher von
ihnen dachte, nicht im
Geringsten erwartet hätte. Durch
den Regen zockelten Karren in Richtung der Stadt, mit pitschnassen
Planen
verhängt, darunter Soldaten. Ich sah zum ersten Mal dreckige,
graubärtige
Typen, die richtigen Frontschweine, alle alt. Vor den Karren
Panierpferdchen,
dunkel vor Nässe. Sieht nicht mehr nach motorisiertem
Blitzkrieg aus. 06. oder
07.02.1945 Auf
dem Heimweg drang ich in Professor K.'s verlassenen Garten ein. Hinter
der
schwarzen Hausruine pflückte Krokus und brach Flieder. Trug
einen Teil davon zu
Frau Goltz. Die
Blumen, die wunderschönen Blumen. Dabei liefen ihr die
Tränen übers Gesicht.
Auch mir war scheußlich zumute. Schönheit tut jetzt
weh. Man steckt so voll
tot. 16.02.1945 Ich
brenne heftiger und mit größerer Flamme als vor dem
Bombenkrieg. Jeder neue
Lebenstag ist ein Triumphtag. Man hat es wieder mal überlebt,
man trotzt, man
richtet sich gleichsam höher auf und steht fester auf der
Erde. Si
fractus illa barto orbis in pavidum ferien ruine. Auf
der Oder ist das Eis gebrochen und hat den Übergang
weggerissen. Die Trümmer
sind stromabwärts davongetrieben. Die Verbindung zum rechten
Ufer ist
unterbrochen. So sind unsere Träume und Hoffnungen dahin.
Unser Wunsch, schon
bald vorzurücken und dem Einsatzgebiet in Stellung zu gehen,
um Berlin in einem
Schwung einzunehmen und die hitlerischen Horden endgültig zu
zerschlagen. Es
wird schwer werden, wieder einen Durchbruch zu schaffen. Und Gott
weiß, wer von
uns bis Berlin am Leben bleiben wird. Sonntag, 22.
April 1945, 1 Uhr nachts Ich
fasste an einem Schlangenschwanz Posten, stand zwei Stunden im Regen
und bekam
schließlich 250 Gramm Grütze, 250 Gramm
Haferflocken, zwei Pfund Zucker, 100
Gramm Kaffeeersatz und eine Büchse Kohlrabi. Noch fehlen
Fleisch und Wurst und
Bohnenkaffee. Vom
Hunger trennen uns die neuen kleinen Vorräte. Mir machen sie
Sorgen wie dem
Reichen sein Geld. Sie könnten verbombt, gestohlen, von
Mäusen gefressen, vom
Feind geraubt werden. 17. Februar
1945, 1 Uhr nachts So
sehr hat sich alles verändert, seit wir in Deutschland sind. Heute
wenig Beschuss und, obwohl die Zeit dafür heran ist, bisher
kein Luftangriff.
Eine nervöse Heiterkeit bricht aus. Fräulein Behn
kräht durch den Keller. Nun
wollen wir doch mal ehrlich sein. Jungfern sind wir wohl alle nicht
mehr. Sie
bekommt keine Antwort. 26. Februar
1945, 1 Uhr nachts Was
für ein schmerzlicher Verlust, so kurz vor dem Ende des
Krieges. Für
sie war der Ausbruch
der Brutalität das Vorgehen der Roten Armee in
Ostpreußen. Und was vorher war,
war ihnen durch die damals verfügbaren Nachrichten nur
teilweise bekannt
geworden. Also
eigentlich war nur
die direkte Botschaft durch den in Urlaub fahrenden Soldaten die
Möglichkeit,
einigermaßen mitzubekommen, dass hier Dorf für Dorf
dem Erdboden gleichgemacht
wurde, dass nur noch die gemauerten Kamine herausstanden, sonst das
ganze Dorf
abgefackelt war, dass alte Männer, Frauen und Kinder mit
umgebracht worden waren.
Es ist ja bis heute noch ein unbeleuchtetes Terrain, dass wesentlich
mehr
russische Zivilisten vom Leben zum Tode befördert worden sind
als Angehörige
der Roten Armee. Das wissen wir heute noch nicht genügend und
damals schon gar
nicht. Das
muss man sich also
klar machen, dass der Wissensstand desjenigen Berliners, der die Stadt
nicht
verlassen hatte, der selbst nicht im Krieg gewesen war, im Wesentlichen
beeinflusst war durch die Nazi-Propaganda und durch gelegentliche wahre
Berichte von urlaubenden Soldaten. Montag, 23.
April 1945, 9 Uhr früh Je
größer, je zufälliger der Haufen, desto
geringer die Chance für
Schulbücher-Heldentum. Im
Befehl des Oberkommandierenden heißt es, das Offizierskorps
solle in den
nächsten Tagen die Mannschaften auf Gefechte auf
großstädtischem Terrain
vorbereiten. Ach,
fast hätte ich es vergessen. Unsere Division hat den
Suworow-Orden zweiter
Klasse bekommen und wurde, so wird erzählt, für den
Rotbanner-Orden und den
Rang einer Gardedivision vorgeschlagen. Da wird Oberst Antonow wohl
befördert
werden, dieser Held, obwohl ihn viele wegen seiner Strenge und
Schrulligkeit
nicht mögen, vielleicht auch, weil er Zigeuner ist. Es gibt ja
immer noch Leute
mit nationalistischen und chauvinistischen Vorurteilen. Gegen
Mitternacht fiel ich vor Müdigkeit fast von meinem Kellerstuhl
und torkelte die
glasbestreute Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock, wo ich auf der
Couch bei
der Apothekers Witwe schlief, bis gegen sechs Uhr. Ich hörte
verwundert, dass
zwischendurch eine Bombenserie gefallen sei. Hab sie glatt
überschlafen. 1.
März 1945 Überhaupt
kein Befehl mehr, keine Nachrichten, nichts. Es kümmert sich
kein Schwein mehr
um uns. Wir sind plötzlich Individuen, keine Volksgenossen
mehr. Alle alten
Bindungen zwischen Freunden und Kollegen sind tot, soweit Entfernungen
zwischen
ihnen liegen, die mehr als drei Häuser weit sind. Der
Höhlenhaufen, die
Familie, wie in Urzeiten. Der
Horizont reicht hundert Schritte weit. 04.03.1945 In
der Nacht hat ein Fuhrwerk meine Tasche gebracht, in der die
Tagebücher waren.
Bis zur Dunkelheit brachte ich meine Gedanken im Tagebuch zu Papier. Beim
Bäcker hieß es, die Russen stünden nun bei
Weißensee und Rangsdorf. Im
Rangsdorfer Strandbad habe ich oft gebadet. Ich spreche es
versuchsweise laut
vor mich hin. Die Russen in Rangsdorf. Es will nicht zusammenklingen.
Im Osten
heute feurig roter Himmel, endlose Brände. 13.03.1945 An
der Ecke plötzlich Geschrei und aufgeregtes Gerenne. Bei Bolle
wurde ein
Lastwagen entladen. Fässerweise
trug man Butter ins Haus, ranzige Ware, die verteilt werden soll. Ein
Pfund pro
Nase, und zwar, das ist das Beängstigende, gratis. Ich
drängelte ein paar Minuten mit, schnappte dabei was auf von
Reserven,
Verstärkungen und deutschen Panzern im Anmarsch von
irgendwoher. Ich ließ dann
die Butter Butter sein, mag mich nicht drum schlagen. Heute wenigstens
noch
nicht. Vielleicht
muss ich's bald lernen. 21.03.1945 In
einem Haus stieß ich auf die Leiche einer hässlichen
alten Frau und
erschauderte vor Entsetzen. Sie lag wie ein Stück Holz in
einem zerfledderten
Bett. Ich schlug schnell die Tür zu, ging hinaus und spuckte
angewidert aus. Ich
ging um das Haus, öffnete eine Tür auf der
Rückseite und erstarrte. Wieder eine
Leiche, ein alter Deutscher. Ich floh aus diesem finsteren Haus, und
der Wind
pfiff mir wütend hinterher, ließ die Türen
schlagen und die Fenster klappern. Daunen
wirbelten umher, und die Wipfel rauschten. Dienstag,
24.
April 1945 Mädchen
in Zivil schauten aus einem Fenster. Ich sah genauer hin, und schon
waren sie
verschwunden. Als ich näher heranging, kamen sie aus dem Haus,
überquerten
stolz die Straße und versteckten sich im Eingang eines
großen dreistöckigen
Gebäudes. Ich
blieb stehen. Ihre sympathischen Gesichter und die Kleider hatten meine
Aufmerksamkeit erregt. Sind das wirklich Deutsche? dachte ich. Ich war
ja noch
nie einem schönen Fräulein begegnet. Der
Osten brennt. Es heißt, die Russen stehen schon an der
Braunauer Straße. Ausgerechnet
Braunau. Der Ort, an dem Adolf das Licht der Welt erblickte. Mittwoch,
25.
April 1945, nachmittags Wir
vertragen uns gut miteinander. Man lernt sich schnell kennen in solchen
Tagen. 04.04.1945 Bereits
zu Beginn meines
Aufenthaltes in Bärwalde war ich in die Redaktion gegangen und
hatte meine
Gedichte vorgestellt. Hauptmann Scherzdorbitow, der Assistent des
Redakteurs,
war sehr liebenswürdig. Es
stellte sich heraus,
dass er ebenfalls schreibt. Die Gedichte gefielen ihm, und er fragte,
ob ich
einige für die Redaktion abschreiben könne. Nie habe
ich das Sprichwort »Not
lehrt Beten« gemocht. Es
klingt so hühnisch,
so wie »Not lehrt Betteln«. Ein Gebet von Angst und
Not erpresst aus dem Munde
solcher, die an guten Tagen nichts vom Gebet wussten, ist
klägliches Gebettel.
Unsere Sprache wird recht haben, wenn sie die Wörter
»beten« und »betteln«
ähnlich wie »Brüder« formte. 12.04.1945 Denn
in Stalingrad waren selbst die Keller dem Erdboden gleichgemacht
worden. Die
Straßen beginnen zu grünen. Die Natur, nein, die
stoppt niemals und wird den
Blick des Menschen immer mit ihrer frischen Pracht erfreuen. Im
Keller wiederum. Gegen 18 Uhr. Hab hier unten geduselt, bis die Henny
vom
Bäcker kam und meldete, dass ein Volltreffer in die Drogerie
neben dem Kino
gegangen sei. Der Inhaber war gleich tot. Ach
bitte! Wie ist der Mann kaputtgegangen? So
reden wir jetzt. So sind wir sprachlich heruntergekommen. Man
kommt der drohenden Erniedrigung auch sprachlich entgegen. Das
Bild der russischen
Soldaten von den Deutschen war ja nicht nur durch die stalinistische
Propaganda
beeinflusst, sondern in noch viel stärkerem Maße,
was sie mit ihren eigenen
fünf Sinnen hatten wahrnehmen können, als sie von der
Linie Stalingrad, Moskau,
Leningrad in den Jahren 1943, 1944, 1945 immer weiter nach Westen
vorgerückt
sind und gesehen haben, was mit Russland gemacht worden war durch die
Deutschen. Also die brauchten im Grunde nicht groß durch die
Kriegspropaganda
der Roten Armee angestachelt zu werden, denn ihr Hass hat sich gebildet
durch
eigene Anschauungen. 13.04.1945 Gerade
ist mit der Post die für mich tragischste und bitterste aller
Auslandsmeldungen
eingetroffen. Roosevelt ist tot. Wie
sehr habe ich ihn immer geschätzt und geachtet. Allein er hat
es vermocht, der
amerikanischen Politik eine scharfe und gründliche Wendung
gegen den Faschismus
und die Reaktion zu geben. Donnerstag,
26.
April 1945, 11 Uhr morgens Lebe
wohl, du mein kurzes Beinahr zu Hause, bist einstweilen unbewohnbar. 16.04.1945 Also
werde ich von nun an bei der Witwe hausen. Ihr ist es sehr recht. Sie
hat
Angst, zu allein in der Wohnung zu sein. 18.04.1945 Nur
an einer Stelle gibt es ein kleines Einschussloch. Auf allen Seiten ist
das
Schloss von einem Teich umgeben, in dem sich das Gebäude
wunderschön spiegelt.
Man kann sich nur schwer vorstellen, dass hier ein einziger Mensch
gelebt hat,
dem dies alles gehörte. Von
jetzt an gehört es übrigens uns. Jetzt ist es alles
sowjetisch. Und ich
empfinde heute voller Freude, wie großartig unser Sieg ist. Etliche
Stunden später, gegen 18 Uhr, wieder im Keller. Ich konnte in
der Zwischenzeit
etwas schlafen, war ganz schön besoffen, nachdem ich mit der
Witwe die
angerissene Burgunderpulle geleert hatte. Erwachte taumelig, mit
bitterem Mund,
fand nicht sogleich Anschluss an die petroleumflackernde Unterwelt. Bis
ich Leute hinausrennen sah und sie nach Säcken rufen
hörte. »Los, drüben in den
Baracken holen sie Kartoffeln raus.« »Ich?«
»Mit der Witwe hin.« Der Feind machte gerade Pause,
es war ziemlich ruhig. Nicht
weit von hier wird gekämpft. Alle wollen schnell nach Berlin.
Und die Trosse
holen die Vorhut ein, der Nachschub schließt zu den Trossen
auf. Jetzt ist es
nicht mehr weit bis Berlin. 40 Kilometer vielleicht, wenn nicht sogar
weniger. Wir
drängen uns durch den menschenwimmelnden Gang, stolpern
glitschige Stufen
abwärts, landen in stinkenden, faulenden Kartoffeln, klauben
uns Brauchbares
heraus, füllen die Eimer mit Kartoffeln. Um uns wieder
Geknatter und Gedröhne,
keiner schert sich darum, dass Plünderfieber hat sie alle
ergriffen. Nachzutragen.
Ein Bild, das ich auf der Straße sah. Ein
Mann schob einen Handkarren, auf dem brettsteif eine tote Frau lag.
Graue
Strähnen, lose flatternd, blaue
Küchenschürze. Die dürren, grau bestrumpften
Beine stagten lang über das hintere Karrenende hinaus. Kaum
einer sah hin, war, wie früher einmal, die
Müllabfuhr. Das
ist ein
authentisches Zeugnis. Authentischer geht es schon mal gar nicht. Kein
schriftliches
Zeugnis kann authentischer sein als dieses. Noch authentischer ist nur
das
gesprochene Wort unmittelbar nach dem Erlebnis. Ich denke, eine
Authentizitätsdebatte dürfte es nicht geben,
zumindest nicht bei diesem Buch. Es
wird eine Debatte
geben über die Bedeutung eines solchen Berichtes, eines
solchen
Lebensberichtes. Was sagt uns das Zeugnis eines einzelnen Mannes? Kann
uns ein
einzelnes solches Bild etwas Grundsätzliches sagen
über das Verhalten von
Rotarmisten im Krieg? Und
es sind bestimmt
Formulierungen drin, die authentisch sind und die sie genauso damals
aufgeschrieben hat. Zum Beispiel gibt es da so Stellen, wo sie mit
einer
gewissen Häme bemerkt, dass die Likörfabrikantin oder
die Bäckerin, die immer
in all den schweren Zeiten irgendwas zu tauschen hatten, immer zu essen
hatten
und deswegen am fettesten sind von allen Frauen, auch die ersten sind,
auf die
die Soldaten dann scharf sind, die sie vergewaltigen wollen. Und
das vermerkt sie mit
einer gewissen Boshaftigkeit und sowas könnte man im
Nachhinein, wenn man
besser dastehen will, durchaus wegstreichen. Das hat sie nicht getan.
Aber
natürlich ist es so, dass der Text einen Rhythmus hat und
einen Verlauf hat und
einen Fluss hat. Den hat er bestimmt in der Form nicht gehabt. Ich
verstehe diese
Debatte auch nicht. Ich glaube, die Bewegung war diejenige. Jemand hat
gesagt,
das ist kein normaler Text, das ist ein zeithistorisches Dokument. Ein
zeithistorisches Dokument sollte aber möglichst in der rohen
Skelettform
erscheinen, nämlich so, wie es damals gemacht wurde. Das
wollte sie natürlich
nie, denn sie wollte ja dann ein Buch daraus machen, das die Leute auch
lesen. Ich
glaube, hohe
Tagebuchnotizen hätten lange auch nicht die Wirkung gehabt,
denn sie hat auch
schon auf dieses Buch hin üble Reaktionen bekommen. Ich glaube
auch, dass die
Stärke des Buches tatsächlich in der Art und Weise
liegt, wie sie beschreibt,
was sie erlebt hat. Ich bin Gott froh, dass sie diese Tagebuchnotizen
ein
bisschen ausgeführt hat. 25.04.1945,
Berlin, Spree Wir
werden übersetzen. Freitag, 27.
April 1945 Tag
der Katastrophe, Wilder Wirbel, notiert Samstagvormittag Gegen
Mitternacht meldete Fräulein Behn, dass der Feind bis an die
Schrebergärten
vorgedrungen sei und die deutsche Linie bereits vor uns liege. Heute
habe ich zum ersten Mal im Keller voll kurz gesagt, dass ich etwas
Russisch
kann, dass unter dem von mir in jungen Jahren abgegrasten
Länderdutzend sich
auch das europäische Russland befand. Zwischen 25.
und
27. April 1945 Ich
fuhr Fahrrad. Ich hatte übrigens einen Tag zuvor gelernt, wie
man sich auf
diesem, wie mir scheint, wunderbaren Gerät fortbewegt, und
begegnete einer
Gruppe deutscher Frauen mit Bündeln, Packen und Koffern. Die
Einwohner kommen
zurück, dachte ich, drehte zwei Runden auf der
Straße und versuchte, sie mir
näher anzusehen. Plötzlich
aber bestürmten sie mich alle und redeten unter
Tränen auf mich ein. Ich musste
unbedingt herausfinden, was diese Frauen quälte. Ich
fragte die Frauen in gebrochenem Deutsch, wo sie wohnen, und erkundigte
mich,
warum sie ihre Häuser verlassen hatten. Schreckerfüllt
erzählten sie von dem Leid, das ihnen die Sturmtruppen in der
ersten Nacht, als
die Rote Armee einrückte, zugefügt hatten. Ich
schlief bis gegen fünf Uhr früh, hörte dann
im Vorraum jemand herumgeistern. Es
war die Buchhändlerin, sie kam von draußen, fasste
mich bei der Hand,
flüsterte. »Sie
sind da!« Wer? Die Russen? Ich bekam kaum die Augen auf. Ja,
soeben sind sie
bei Meier, dem Spirituosenladen, durchs Fenster eingestiegen. Ich
horchte an der zersplitterten, nicht mehr verschließbaren
Hintertür. Alles
still, die Küche leer. In der Kniebeuge kroch ich zum Fenster
hin. Die
morgenhelle Straße lag unter Beschuss. In
der Luft knattern Dutzende bissiger Bostons, in Begleitung unserer
Jäger. Sie
fliegen zum Zentrum Berlins, um die Ecke biegt russische Vierlings
Flak. Vier
eiserne Giraffen, drohende, turmhohe Hälse. Zwei
Männer stapfen die Straße hinauf, breite
Rücken, Lederjacken, hohe
Lederstiefel. Durch die zerbrochenen Scheiben weht Benzinduft in die
Küche. Als
unsere Soldaten kamen, wurden alle in den Keller getrieben. Die
jüngste der
erwachsenen Frauen und wohl auch die schönste nahmen sie mit
und vergingen sich
an ihr. »Sie
haben mich hier gestoßen, erzählten die
schöne Deutsche und raffte ihren Rock.
»Die ganze Nacht, und es waren so viele, ich war
Jungfrau,« seufzte sie und
begann zu weinen. »In
unserem Torweg putzt ein junger Kerl ein Motorrad, eine fast neue
deutsche
Zündapp-Maschine. Er hält mir den Lappen hin, fordert
mich mit Gesten auf,
weiter zu putzen. Als ich ihm auf Russisch sage, dass ich dazu keine
Lust habe
und sogar dazu lache, blickt er mich überrascht an und lacht
dann zurück. Ich
spüre, wie einige Ängste von mir weichen.
Schließlich sind ja auch Russen bloß
Männer, denen man auf irgendeine weibliche Art mit Listen und
Kniffen beikommen
könnte, die man hinhalten, ablenken, abwimmeln kann. »Sie
haben vor meinen Augen meine Tochter vergewaltigt,« warf die
arme Mutter ein. »Und
sie können noch mal wiederkommen und mein Mädchen
erneut vergewaltigen.« »Bleib
hier,« bedrängte mich das Mädchen
plötzlich. »Du wirst mit mir schlafen. Du
kannst mit mir machen, was du willst, doch nur du allein. Ich bin zu
allem
bereit, was du willst. Nur rette mich vor all diesen
Männern.«
____________________________ Ich
spüre ein fremdes, schwer fassliches Etwas in der Luft,
böse und bedrohlich.
Manche Kerls blicken so scheu an mir vorbei, tauschen Blicke. Einer
verwickelt mich in ein Gespräch, will mich abseits in den Hof
locken, weist auf
zwei Uhren an seinem haarigen Unterarm, von denen er mir die eine
schenken
will, wenn ich mit ihm. Ich
weiche in den Kellergang zurück, drücke mich
über den Innenhof, meine schon,
ich hätte ihn abgeschüttelt, da steht er
plötzlich neben mir und schlüpft mit
in unseren Keller. Er taumelt von Balken zu Balken, leuchtet mit einer
Stablampe die Kellergesichter ab, wohl vierzig an der Zahl.
Lässt den
Lichtkegel zuckend auf Frauengesichtern verweilen. Sie
zeigte alles, sprach über alles, und nicht, weil sie
vulgär war. Ihr Kummer und
ihr Leid waren stärker als ihre Scham und ihre
Schüchternheit. Und
jetzt war sie bereit, sich vor den Leuten ganz auszuziehen, nur damit
man ihren
gequälten Körper nicht anrühren
möge. Ein Körper, der noch etliche Jahre
hätte
unberührt bleiben können. Nun
macht der Lichtkegel bei der Achtzehnjährigen Halt,
Weißdienchen mit dem
weißleuchtenden Kopf verbannt. Drohend
fragt der Russe auf Deutsch, wobei er auf das Mädchen zeigt,
»Wie viel Jahr?«
Ich antworte hastig auf Russisch, »Das ist eine Studentin,
sie ist achtzehn.« Nun
folgt ein Gespräch zwischen dem Mann und mir, ein hastiges Hin
und Her von
Frage und Antwort, das aufzuschreiben sinnlos wäre, weil es
sinnlos war. Es
handelte von Liebe, von wahrer Liebe, von heißer Liebe, dass
er mich liebt, ob
ich ihn liebe, ob wir uns lieben wollen, vielleicht, sage ich, und
bewege mich
schrittweise auf die Tür zu. 28.04.1945 Schon
sind wir draußen im halbdunklen Gang. Ich tripple
rückwärts vor ihm her, er
kennt sich in diesem Labyrinth nicht aus, folgt mir. Ich
flüstere, dort
hinüber, dort sehr schön, keine Leute. Noch drei
Schritte, zwei Stufen, und wir
stehen auf der Straße, mitten in der grellen Mittagssonne. 08.05.1945 Im
Keller. Beim Flackerschein eines Kerzenflämmchens erkenne ich
das Kaltgesicht
der Bäckerin, den zuckenden Mund. Drei Russen stehen neben
ihr. Mal zerrte
einer am Arm der im Liegestuhl daliegenden Frau, mal stieß
der andere sie, die hochwill,
wieder auf den Sitz zurück. Es
ist, als sei sie eine Puppe, ein Ding. 10.05.1945 Ich,
auf die Straße, die nun entspannt und abendfriedlich daliegt.
Beschuss und
Brandröte sind fern. Ich treffe ausgerechnet auf den Offizier,
der soeben die
Likörfabrikantin abgefertigt hat, spreche ihn in meinem
höflichsten Russisch
an, bitte um Hilfe. Er begreift und zieht ein saures Gesicht.
Zögernd, unwillig
folgt er mir schließlich. 11.05.1945 Das
Wort »Kompliment« löste bei ihnen aus
irgendeinem Grunde Begeisterung aus. Im
Keller noch Schweigen und Starre. Von den dreien bei der
Bäckerin hat sich
einer inzwischen verzogen, die beiden anderen stehen immer noch an
ihrer Seite
und streiten sich. Der
Offizier mischt sich in das Gespräch, ohne Befehlston, von
gleich zu gleich.
Ich verstehe mehrmals den Ausdruck »Ukas Stalina«,
»Stalins Erlass«. Einer der
beiden Ermahnten widerspricht, sein Gesicht ist zornig verzerrt. Was
denn? Wie haben's denn die Deutschen mit unseren Frauen gemacht? Wieder
redete der Offizier eine Weile ganz ruhig auf den Mann ein, dabei
entfernte
sich langsam in Richtung der Kellertür, hat die beiden auch
schon draußen. Die
Bäckerin fragt heiser, »Sind sie weg?« Ich
nicke, gehe aber vorsichtshalber
noch mal hinaus in den dunklen Gang. Das
Gespräch dauerte eine ganze Weile. Ich war schon spät
dran zum Abendessen, und
so verabschiedete ich mich von den Mädchen. Ich aß
dann aber ohne Appetit, die
Mädchen waren sehr hübsch und hatten mich durch ihre
Schönheit und Zartheit
gewonnen. Da
haben sie mich. Die beiden haben hier gelauert. Ich schreie, schreie.
Hinter
mir klappt dumpf die Kellertür zu. Der eine zerrt mich an den
Handgelenken
weiter, den Gang hinauf. Nun zerrt auch der andere, wobei er mir seine
Hand so
an die Kehle legt, dass ich nicht mehr schreien kann, nicht mehr
schreien will,
in der Angst, erwürgt zu werden. Beide reißen sie an
mir. Schon
liege ich am Boden, spüre im Rücken Nass
kühl die Fliesen. 21.05.1945 Ich
kroch an der Treppe hoch, raffte mein Zeug zusammen, schob mich an der
Wand
entlang zur Kellertür hin, drinnen starrt mich das Kellervolk
an. Jetzt erst
merke ich, wie ich aussehe. Die Strümpfe hängen mir
auf die Schuhe herunter,
das Haar ist zerzaust, die Fetzen des Strumpfhalters habe ich noch in
der Hand. Ich
schreie los, Schweine ihr, zweimal geschändet, und ihr macht
die Tür zu und
lasst mich liegen wie ein Stück Dreck, und drehe mich um und
will fort. 28.05.1945 Die Mädchen haben wieder Gefallen an mir gefunden, und ich noch mehr an ihnen. ____________________________ Die
Witwe hockt bei mir auf der Bettkante, sie zieht sich eben die Schuhe
aus, da,
Gepolter, Getöse. Arme
Hintertür, kümmerlich errichtetes Bollwerk, man
hört Gescharr und Geschiebe und
viele grobe Stimmen, wir starren uns an, einer, zwei, drei, vier Kerle,
alle
schwer bewaffnet, das Automatengewehr an der Hüfte. Was
soll ich tun? Leise kriech ich aus dem Bett, horch in der Tür
eine Weile zur
Küche hin, wo anscheinend getrunken wird, husche dann durch
den stockdunklen
Flur. Eben
will ich die Treppe aufsteigen, da umfasst mich von hinten im Dunkeln
einer,
der lautlos hinterdrein schlich. Rasenplätzen,
Schnapsdunst, mein Herz hüpft wie verrückt, ich
flüstere, ich flehe, nur einer,
bitte, bitte, nur einer, meinetwegen Sie, aber schmeißen Sie
die anderen raus.
Er verspricht es flüsternd und trägt mich wie ein
Bündel auf beiden Armen durch
den Korridor. 03.06.1945 Und
nun sitze ich hier am Küchentisch und schreibe, schreibe,
schreibe mir allen
Wirrsinn aus dem Kopf und Herz. Wobei
mir die seltsame Vorstellung einfällt, eine Art Wachtraum, der
mir heute früh
kam, als ich nach Petkers Weggang vergeblich einzuschlafen versuchte.
Es war
mir, als läge ich flach auf meinem Bett und sähe mich
gleichzeitig selber
daliegen, während sich aus meinem Leib ein leuchtend
weißes Wesen erhob, eine
Art Engel, doch ohne Flügel, der steil aufwärts
schwebte. Es soll nicht mein
Ich sein, dem dies geschieht. 09.06.1944 Dienstag,
01.
Mai 1945, 15 Uhr Meine
Hände zittern, die Füße sind Eis. Was
heißt Schändung? Als ich das Wort zum
ersten Mal laut aussprach, Freitagabend im Keller, lief es mir eisig
den Rücken
herunter. Jetzt
kann ich es schon denken, schon hinschreiben mit kalter Hand. Ich
spreche es
vor mich hin, um mich an die Laute zu gewöhnen. Es klingt wie
das Letzte und
Äußerste, ist es aber nicht. Sie
war diejenige, die
am meisten mitbekommen hat von dem, was sich auf der anderen Seite
abspielt,
was sich unter den Besatzern, unter den Soldaten abspielte. Und sie hat
diese
Soldaten noch nicht mal so sehr als die Masse der uniformierten
Männer
wahrgenommen, sondern sie hat sie als Individuen gesehen. Und sie hat
jeden
Einzelnen von ihnen, der ihr näherkam, auch auf diese
unangenehme, auf diese
schreckliche, auf diese gewaltsame Weise näherkam, sehr, sehr
genau beobachtet
und konnte zu jedem was sagen. Also
sie konnte zu jedem
ein Gefühl entwickeln. Es ist nie so wie in Aufzeichnungen zum
Beispiel von
Ruth Andreas Friedrich oder anderen, dass das so globalisiert wird und
allgemein gesagt wird. Wir sind voller Hoffnung oder wir sind voller
Angst,
sondern es ist immer ihre Angst und ihr Schrecken und es ist ihr
Gegenüber, von
dem sie erzählt. Mir
fällt auf, der Ton,
den sie hat, ist wirklich so eine Art Gottfried-Bennscher Ton, eine
ganz
intensive und sehr mitleidlose Fremd- und auch Selbstbeobachtung. Das
geht
immer so durcheinander. Ich selber kenne nun so ein Zeugnis nicht, weil
es eben
vom Stoff her einzigartig ist. Vom Stilistischen, denke ich, atmet es
ein
bisschen den Geruch der Vor-Nazi-Zeit. Für
mich war das
deswegen ganz wichtig, weil es eben nicht wie viele andere so
generalisiert.
Zum Beispiel gibt es diese Erinnerungen, wo dann immer beschrieben
wird, wie
erhebend das war, das erste Streichkonzert wieder zu hören. Und
ich habe das nicht so richtig geglaubt. Das ist so
ein bisschen wie die Frage, die ich immer an meine Eltern gestellt
habe, wie
war das denn eigentlich wirklich? Und sie haben immer auf relativ vage
Art und
Weise gesagt, das war alles ganz schrecklich und die Bomben und die
ganze
Nazi-Zeit war ganz furchtbar. Aber man kriegte nie die genaue Auskunft,
was
passierte mit denen, die da wirklich innen drin waren in diesen Zeiten. Augen
zu, Zähne fest zusammengebissen, kein Laut. Bloß
als das Unterzeug krachend zerreißt, knirschen
unwillkürlich die Zähne. Die
letzten heilen Sachen. 10.06.1945 Auf
einmal Finger an meinem Mund, Gestank von Gaul und Tabak. Ich
reiße die
Augen auf. Geschickt klemmen die fremden Hände mir die Kiefer
auseinander. Aug
in Auge. Dann lässt er über mir aus seinem Mund
bedächtig den angesammelten
Speichel in meinen Mund fallen. Erstarrung. Nicht Ekel, bloß
Kälte. Das
Rückgrat gefriert, eisige Schwindel kreisen um den Hinterkopf.
Ich
fühle mich gleiten und fallen tief durch die Kissen und die
Dielen hindurch, in
den Boden versinken. So ist das also. Als
ich aufstand, Schwindel, Brechreiz, sagte dann laut, verdammt, und
fasste
einen Entschluss. Ganz klar, hier muss ein Wolf her, der mir die
Wölfe vom Leib
hält. Offizier, so hoch es geht, Kommandant, General, was ich
kriegen kann. Jetzt
haben Sie im Radio berichtet, dass eine neue Medaille für die
Einnahmen Berlins gestiftet wird. Ich werde sie wohl nicht bekommen, so
wie ich
auch keine der anderen Auszeichnungen erhalten habe, für die
ich vorgeschlagen
war. Und wieder sind heute alle Offiziere ausgegangen, machen
Bekanntschaften. Wollte
es schon für den Tag aufgeben, da tat sich an der Wohnung
gegenüber
die Tür auf. Ein besternter, groß, schwarzlockig,
gut genährt. Wie er mich mit
dem Eimer sieht, lacht er mich an, Radebrecht, du, Frau? Ich lache
zurück,
überschütte ihn mit meinem besten Russisch. Er
ist entzückt, seine Sprache zu hören. Er
heißt Anatol so und so, ist
Ukrainer. 16.06.1945
oder 17.06.1945 Doch
Leute und Umstände zwingen mich dazu. Eine
schändliche Barbarei im
Tempel der Wissenschaft ist das, und nichts anderes. Im
Übrigen merkwürdig geringe Wirkung der
Offizierssterne auf die
Mannschaften. Ich war enttäuscht. Keiner fühlte sich
in seiner Gemütlichkeit
durch Anatols Rang gestört. Anatol setzte sich auch ganz
friedlich dazu und
lachte und quatschte mit den anderen, punchte ihnen die Gläser
voll und ließ
sein Kochgeschirr kreisen. Mir
wird etwas bange für mein Tabu. 24.06.1945 Die
Gefahr, für immer die Fähigkeit zum Geschlechtsakt zu
verlieren,
schreckte mich jetzt mehr als jemals zuvor, und ich beschloss, meine
Schüchternheit und meine Empfindsamkeit zu überwinden. Ich
trank an diesem Abend viel, wollte viel trinken, betrunken werden, was
mir auch gelang. Daher Erinnerungslücken. Den
Anatol finde ich neben mir wieder, seine Waffen und Sachen rings um das
Bett gebreitet. Die vielen Knöpfe und Taschen und was er alles
drin hat. Freundlich,
zutunlich, kindlich. Aber Mai geboren, Stier, Stier. Am
Mittag, als ich von der Arbeit ermüdet aus dem Fenster
schaute, sah ich
ein schönes Mädchen die Straße entlang
gehen. Eine Blondine, aber mit leicht
rötlichem Haar. Ich rief ihr zu. Sie kam heran. Da lief ich
hinaus und schlug
ihr, ohne lange Gespräche und ohne Umschweifer vor, ins Haus
zu kommen. Was
werde ich da tun? Ich antwortete in ihrer Sprache, Bücher
lesen. —
Aber das ist doch langweilig! Ich umarmte sie. — Lass uns in
den ersten
Stock gehen, schlug ich ihr vor. Sie willigte auch hierin ein. Auf
Sonntag, 29. April 1945,
zurückgeblickt. — Sag mal, hast du eigentlich keine
Angst? Du meinst vor den
Russen? — Ja, schon. Ich
meine wegen Anatol, so ein vollgefressener, bulliger Kerl. Ach, der
frisst mir aus der Hand! Und macht er ein Kind dazu? — Bis
jetzt habe ich mir
aber deswegen die geringsten Sorgen gemacht. Wieso eigentlich? Ich
weiß nicht. Ich
habe ein sicheres Gefühl, als könnte mir dies nicht
zustoßen, als wenn
ich mich, ganz körperlich gesprochen, dabei
verschließen könnte, gegen dies
äußerst Unerwünschte zu sperren. Ich
umarmte sie, drückte sie an mich. Und auf einmal roch es nach
Hund. Doch
das kühlte mich nicht ab. Ich legte sie auf das Bettlager,
liebkoste sie,
küsste sie, streichelte sie. Dem Herzen entsprang ein
elektrischer Strom. Sonderbar
ist, wie die Männer zuerst immer fragen, hast du einen Mann?
Was
soll man am zweckmäßigsten antworten? —
Zieh dich ganz aus! Wir werden... Ja? Sie hatte darauf gewartet und
folgte meinem Vorschlag gern. Während sie sich auszog, war ich
ganz ungeduldig.
Der elektrische Strom verlor nicht an Spannung. Sie
spreizte die Beine, ich zog mich aus und legte mich hin. Und als ich
ihr Geheimnis mit meinem besten Stück berührte, da
fiel der Strom aus. Ich war
bestürzt und wurde rot und bekam einen fürchterlichen
Schrecken. Übrigens
wüsste ich nicht, wie ich auf diese Frage nach meinem Mann
antworten sollte, selbst wenn ich wünschte, ehrlich zu sein.
Ohne den Krieg
wären Gerd und ich längst verheiratet. Als Gerd aber
den Gestellungsbefehl
erhielt, war es aus, er wollte nicht mehr. Kriegswaisen
in die Welt setzen, nein, kommt nicht in Frage, ich bin selbst
eine, ich weiß Bescheid. Die letzte Post kam vom Westwall.
Ich weiß kaum mehr,
wie er aussieht. Nachdem
ich so viele warnende Bücher gelesen hatte, dachte ich nun,
dass
ich für das Geschlechtsleben unwiederbringlich verloren sei.
Plötzlich war der
Strom wieder da, schlug mich geradezu und sprang von mir auf sie
über. Wie oft
ich den Fluss des Stromes schaltete, ich weiß es nicht mehr. Kaum
hatten wir unseren Malzkaffee mit Butterschnitten vom Plunderbrot
verzehrt, kam auch schon wieder Anatols Mann aufgekreuzt, für
die wir eine Art
von Restaurant sind, bloß, dass die Gäste ihr Futter
mitbringen. Ein guter Typ
diesmal dabei, der beste, den ich bisher unter ihnen fand.
André Feldwebel von
Beruf Schullehrer. In
der Pumpenschlange erzählte eine Frau, wie in ihrem Keller ein
Nachbar
ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten, »Nur gehen
Sie doch schon
mit! Sie gefährden uns ja alle!« Kleine
Fußnote zum Untergang des Abendlandes. Schon
kreist wieder Schnaps um den Tisch. Anatol kriegt seinen Gierblick,
den ich kenne, und dreht schließlich den ganzen Verein unter
ziemlich
durchsichtigen Vorwänden hinaus. Nicht einmal einen
Schlüssel gibt es für diese
Tür. Anatol rückt den Ohrensessel heran. Ich
muss immer an das denken, was ich in der Frühe mit der Witwe
am
Herdfeuer besprochen habe, mache mich starr wie ein Stück
Holz, konzentriere
mich mit geschlossenen Augen auf das Nein. 25.06.1945 Es
wird offiziell damit gerechnet, dass die UDSSR in den Krieg gegen Japan
eintreten wird und dadurch riesige Kräfte der japanischen
Kriegsorden in der
Manschurei binden wird. Zum
ersten Mal eine Runde von echtem Diskutieren. Mindestens drei
Hochbegabte
darunter. Einmal Andrei, der Schullehrer, dann ein Kaukasier mit
Nasenhaken und
Funkelblick. »Ich bin kein Jude, ich bin ein
Georgier«, so führte er sich bei
mir ein. Die dritte Intelligenzbestie ist auch ein Neuer. Ein
blutjunger Leutnant,
heute Abend erst durch einen Splitter verwundet, mit
notdürftig verbundenem
Schienbein an einem deutschen Wanderstock humpelnd, der mit allerlei
Wanderplaketten aus bekannten Orten im Harz verziert ist. Diskussion
über den
Kriegsursprung, den sie im Faschismus sehen, in seiner Struktur, die zu
Eroberungen drängt. Kopfschüttelnd geben sie zu
verstehen, dass nach ihrer
Meinung Deutschland keineswegs einen Krieg nötig gehabt
hätte. Es
sei doch ein reiches, wohlbestelltes, kultiviertes Land. Auch jetzt
noch. Trotz
der Zerstörungen.
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Transkribiert von TurboScribe.ai. |
"BERLIN
45" Tagebücher der Anonyma und des Rotarmisten SWR-2 ● Radio ART ● CD II ● Südwestrundfunk |
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12.07.1944 Eine
junge,
hübsche Deutsche kümmert sich besonders emsig um
meine Haare. Mit der sollte
ich mich anfreunden und mir an ihrer Seite die Zeit vertreiben. Hausrecht
für
einige Hausfreunde, wenn man das so nennen kann, sowie für die
von Anatol
eingeführten Leute seiner Truppe. Nachtrecht jedoch allein
für den Häuptling
Anatol. Für
morgen Abend
um sieben hat sie mich zu sich eingeladen. Die Bekanntschaft
verspricht,
interessant zu werden. Ich
bin im
Übrigen jetzt wirklich tabu. Wenigstens für heute.
Was morgen wird, keiner weiß
es. Anatol kreuzte gegen zwölf Uhr nachts wieder auf, von
selbst verzog sich
daraufhin die Tafelrunde. Nun, Erinnerungslücken. Trank wieder
sehr viel, weiß
keine Einzelheiten mehr. 13.07.1945 Dienstag,
01.05.1945, nachmittags Bin
nie
gezwungen worden, hab mich niemals zwingen müssen. So wie es
war, war es gut.
Es ist nicht das allzu viel, was mich jetzt so elend gemacht hat. Es
ist der
missbrauchte, wieder seinen Willen genommene Körper, der mit
Schmerzen
antwortet. 18.07.1945 Ich
bin nicht
hässlich und kann auf die Liebe, die Wertschätzung
und nicht zuletzt die so
heiß ersehnte Zärtlichkeit vieler hübscher
Mädchen hoffen. Mittwoch,
02.05.1945, mit Dienstagrest Sperrt
die Mädel
ein, steckt sie auf die Hängeböden, packt sie in den
gut gesicherten Wohnungen
zusammen. 09.08.1945 Wir
verziehen
uns nach nebenan, an Herrn Paulis Bett, und finden dort Russenbesuch.
Der
düstere Leutnant an seinem plattengeschmückten
Wanderstock und noch einer, den
er anscheinend mitgebracht hat und den er uns auf ebenso gewandte wie
beiläufige Art vorstellt. So und
so,
Major. Es
ist uns
verboten, mit den Deutschen zu sprechen, bei ihnen zu
übernachten, einzukaufen.
Jetzt verbietet man uns das Letzte. Sich
in einer
deutschen Stadt aufzuhalten, durch die Straßen zu gehen, die
Ruinen
anzuschauen. Nicht nur den Soldaten, auch den Offizieren. Das kann doch
nicht sein.
Was ich will? Freiheit. Die Freiheit zu leben, zu denken, zu arbeiten,
das
Leben zu genießen. Zu
viert sitzen
wir nun um Paulis Bett, die Witwe, ich, der Major und der
düster Blonde. Das
Reden besorgt der Major. Er und ich mustern einander verstohlen.
Tastend
wechseln wir die Worte. Plötzlich
springt er auf, bittet ihn doch sagen zu wollen, ob er vielleicht
störe. Dann
werde er gleich diesen Raum verlassen, aber sofort. Und er tut so, als
sei er
bereits auf dem Sprung dazu. Nein,
nein,
wir wehren ab. Er stört uns nicht.
Worauf er wieder
Platz nimmt, schweigend weiter qualmt. Der
reine
Knigge. Wieder ein völlig neues Muster aus der offenbar
unerschöpflichen
Mustersammlung, die uns die UDSSR da geschickt hat. Der
deutschsprachige Leser kann auf eine ganze Reihe von Kriegserinnerungen
zurückgreifen. Die
bekanntesten sind die Bücher von Grigori Weiß und
Wladimir Gall,
Politoffiziere. Die beiden Bücher sind in der DDR ediert
worden und hatten
einen breiten Leserkreis. Es gibt eine sehr bekannte Edition aus dem
Jahre
1951. Grigori
Klimow, ein SMAD-Mitarbeiter, der schon 1948 in den Westen gegangen
ist, hat
dort seine Erlebnisse niedergeschrieben. Berliner Kreml
heißt es. Von
all denen unterscheidet sich Wladimir Gelfand darin, dass er
jünger und
politisch auf nicht brisantem Posten stand. Das
macht einen großen Unterschied aus. Er bleibt also mit seinen
Erlebnissen in
einer recht privaten Welt. So gesehen ist er natürlich der
Masse der
Rotarmisten, auch der jungen Offiziere, sehr viel näher als
die wenigen, die
dann in politische Verantwortung gekommen sind. Als
jüngstes hat Aufsehen erregt das Tagebuch bzw. die
Aufzeichnungen eines
Wehrmachtssoldaten namens Willi Peter Rese. Das ist eine sehr
eindringliche
Analyse dessen, was mit sensiblen Menschen in einem Krieg passieren
kann. Darüber
hinaus scheint sich mir in diesem Buch zu spiegeln der
deutsch-sowjetische
Krieg überhaupt. Wenn man Gelfand und Rese miteinander
vergleicht, so sieht
man, Gelfand in seiner Art zu denken und zu schreiben, spiegelt sich
wohl auch,
dass der russische Krieg aus Gelfands Sicht ein ganz legitimer Krieg,
ein
Verteidigungskrieg war. Und dazu gibt es ja heute nichts
hinzuzufügen. Und
im Falle Rese ist das so, dass er natürlich nicht nur
begriffen hat, dass man
in den fernen russischen Weiden nicht das deutsche Vaterland
verteidigt, dass
es sich hier also um einen Aggressionskrieg handelt, um einen
illegitimen
Krieg, aus dem es vielleicht für ihn kein Entrinnen gibt. 14.08.1945
In
Deutschland
herrscht jetzt die Zeit des Regens und der Tränen. Die
Deutschen jammern über
das Essen, über den Dreck, trauern den guten alten Zeiten
nach, als es alles
noch im Überfluss gegeben hatte. Diese
Begegnung
mit der deutschen Natur ist für mich sehr unangenehm. Sie ist
so grau und
abweisend, ganz wie eine Stiefmutter. Schweigen!
Die
Witwe sieht mich mit achselzuckender Frage an. Dann wieder der
Leutnant.
Tonlos, gleichmütig. Ist der
Major
Ihnen angenehm? Können Sie ihn lieben? Lieben? Verdammtes Wort!
Ich kann
es nicht mehr hören. Bin so erschrocken und
ernüchtert, dass ich nicht weiß,
was sagen, was tun. Ich
stehe auf und
sage, nein, ich verstehe nicht. Der
Leutnant
humpelt an seinem Stock hinter mir her durch das Zimmer. Halblaut
murmle
ich zu dem Leutnant hin. Und Anatol?
Was ist mit Anatol? Was,
Anatol? Ruft er grob und laut. Wieso
Anatol? Der ist ja längst weit weg. Der
ist zum Stab versetzt.
17.08.1945
Gerade
ertönten
zwei laute Detonationen aus Richtung Hennigsdorf. Zwei graue
Rauchwolken waren
über den Häusern zu sehen. Der
Feind
schweigt nicht, gibt nicht nach, fügt uns auf Schritt und
Tritt Schaden zu. Es
gibt keinen Tag, an dem nicht irgendwo irgendwas explodierte und die
Erde dort,
wo es geschah, vom Donner bebte. Ich
stehe in der
Küche, die Kerze in der Hand. Neben mir steht schweigend der
Major. Höflich
fragt er mich, wo das Bad sei. Er nähert sich, schiebt sich
ein Sessel ans
Bett. Was
will er?
Wieder Konversation machen, den Knickel spielen, siehe Kapitel
Vergewaltigung?
Nicht doch, er will sich bekannt machen. Springt unvermittelt auf,
fragt
nervös. Bin ich Ihnen unangenehm?
Verabscheuen Sie mich? Sagen Sie es offen. Vorgestern
beschloss ich, zum zweiten Mal in dieser Woche jene Stadt zu besuchen,
über die
ich hoch oben auf dem Reichstag geschrieben hatte. Da
stehe ich mit
den Kameraden und schaue und spucke auf Germanien. Auf Berlin, das
Besiegte,
spucke ich. Nein,
nein.
Nein, keineswegs, du magst schon recht sein, so wie du bist. Nur kann
ich mich
nicht so schnell in die Lage finden. August,
1945
Zeit,
der Klauerei ein Ende zu machen. Man billigt diese Leute nicht, man
bringt
ihnen kein Wohlwollen entgegen, aber man bekämpft sie auch
nicht. Man
ignoriert sie, als würde man sie nicht bemerken. Das wirkt
sich auf das gesamte
Leben in unserer Einheit aus. Es gibt Diebe, Spieler und
Zäufer. Das Beispiel
macht Schule. Ich
starre ihn an, schon nimmt er meine Hand, drückt sie fest mit
seinen beiden
Händen und sagt, wobei ihm der Mund zittert und die Augen
jämmerlich blicken, Verzeihen
Sie mir, ich habe so lange keine Frau mehr gehabt. Das
durfte nicht kommen. Schon lege ich mit meinem Gesicht auf seinen Knien
und
schluchze und heule, und heule mir einmal den ganzen Jammer von der
Seele. Ich
spüre, wie er mein Haar streichelt. ___________________ 06.10.1945
Berlin,
Hotel
Gerüchte ranken sich um meinen Namen. Leutnant R. gibt sich in
dieser Hinsicht
mehr Mühe als alle anderen. Um
eines Bonmots
Willen verbreitete er bei einer seiner Vorlesungen, Gelfand,
dem die Deutschen die eigene Familie umgebracht haben, lässt
sich jetzt mit deutschen Mädchen fotografieren, bewahrt ihre
Fotos bei sich auf
und amüsiert sich mit ihnen. Anfangs,
als ich
noch nicht so bekannt war wie ein bunter Hund, haben unsere russischen
Gäste
mich oft nach meinem Alter gefragt. Sagte ich dann, ich sei bereits vor
einiger
Zeit dreißig geworden, so gab es ein Grinsen und die Antwort,
Hihi, die macht sich älter,
die Schlaue.
Meinem Ausweis, den ich nun zückte, mussten sie freilich
glauben. Die
kennen sich
mit uns nicht aus. Sie sind ihre vielgebärenden, früh
verbrauchten Russinnen
gewöhnt, lesen uns die Jahre nicht vom Körper ab.
16.10.1945
Berlin
Vor mir
der nahezu vollkommene Anblick einer Prostituierten. Sie
hat ihre
Augenbrauen nachgezogen, dick Lippenstift aufgetragen und riecht nach
Mode,
allen möglichen Cremes und nach Kölnisch Wasser. Sie
ist nicht ohne Schönheit,
doch die Hand eines hässlichen Gemeinmalers hat ihr all ihre
Frische und
Anziehungskraft genommen. Sie hat einen zarten Körper,
große Brüste, aber
hängend, mit festen Brustwarzen, über die man sich
mit Vergnügen hermacht. Donnerstag,
03.05.1945, mit Rest von Mittwoch
Es
lässt sich keinesfalls
behaupten, dass der Major mich vergewaltigt. Ich glaube, dass ein
einziges
kaltes Wort von mir genügt und er geht und kommt nicht mehr. Also
bin ich ihm
freiwillig zu diensten. Tue ich es aus Sympathie? Aus
Liebebedürfnis? Da sei
Gott vor. Tue ich es für Speck, Butter, Zucker, Kerzen,
Büchsenfleisch? Ein
wenig bestimmt. Es
hat mich
bedrückt, an den Vorräten der Witwe mitzehren zu
müssen. Ich freue mich, dass
ich ihr nun durch die Hände des Majors auch etwas geben kann.
Ich fühle mich
freier so, esse mit besserem Gewissen. Andererseits
mag
ich den Major, mag ihn umso mehr als Menschen, je weniger er als Mann
von mir
will. Und viel wird er nicht wollen, das spüre ich. 22.10.1945
Die
Fahrt
dauerte lang. Im Zug war es dunkel und brechend voll. Die Berliner
Vorortbürger
schwatzen über Speck, Fett und Schokolade. Dann kam sie auf
Politik zu
sprechen. Eine
Frau
schrie, Du hast schon russische
Angewohnheiten angenommen! Diese Worte trafen mich direkt
ins Herz. Und
ich beschloss, das nicht auf sich beruhen zu lassen. Auch
die jüngste
von Portiers hat es inzwischen erwischt. Die Mutter erzählte
es mir an der
Pumpe. Es geht ihr soweit gut,
meinte die Mutter, selber ganz verwundert darüber. Kurzerhand
wandte ich mich an alle Passagiere und fragte, Sind
denn die Russen wirklich so schlecht? Und ihre Gewohnheiten
schlechter als eure? Sofort gingen alle auf die Frau los,
die die
unvorsichtige Bemerkung hatte fallen lassen. Bei
den einen
war es nichts als Heuchelei, andere taten es aus Angst vor mir. Nur
eine Alte
lächelte mir schmeichlerisch zu, schaute mir liebedienerisch
ins Gesicht und
sagte leise, „Bei mir, Herr
Leutnant,
haben aber vorgestern Ihre Kameraden die Wohnung
geplündert.“ und
tauchte in der Menge unter. Ich
würde nicht sagen, dass es zu den Zeiten, zu Ende des Krieges,
eine
Ebenbürtigkeit zwischen den Geschlechtern gab, aber es gab
unglaublich viele
Lasten oder Herausforderungen für die Frauen. Und
die hatten ja Stellungen in der Industrie, in der Wirtschaft, die
hatten in dem
Wiederaufbau unheimlich viel zu tun. Und die Männer kamen aus
dem Krieg zurück
als Versager, als Verlierer. Und die Frauen, die zum Teil ja mit ihren
Männern
dann auch, die eben nicht im Krieg waren, das Kriegsende erlebt hatten,
hatten
auch feststellen müssen, dass diese Männer sie in
keinster Weise schützen
konnten und zum Teil auch gar nicht wollten. 1959
haben wir natürlich ein Umfeld, in dem sich der
Staat gefestigt hat, in der die zentralen Strohlen alle wieder von
Männern
besetzt sind. Und sie selbst beschreibt ja auch, wie die
Männer auf diese
Berichte reagieren. Die wollen das nicht hören. Ihr
Gerd gefriert, als sie das erzählt, während die
Frauen sich mit Humor drüber
weghelfen und davon erzählen, fangen die Männer an
abzuhauen. Die wollen das
nicht wissen. Und ich glaube, das ist schon ein großer
Unterschied zwischen 1945, 1946
und 1959. Und da
fällt das in die falsche Zeit. Der
Anonyme sagt es einmal so, man muss nach einem besseren Wortausschau
halten,
das auch bei schlechtem Wetter standhält. Also das Wort
männlich hat einfach
eine andere Bedeutung gehabt. Das
war keine Ebenbürtigkeit, sondern das war einfach ein Moment,
in dem man über
alles hätte neu nachdenken können. Aber das war keine
Zeit zum Nachdenken. Das
war eine Zeit zum Überleben, wo alle nichts anderes wollten,
als möglichst
schnell zur alten Ordnung zurückzukehren. Halb
zwölf,
nachts. Gestern
habe ich
mir eine Vorführung deutscher Künstler im hiesigen
Schauspielhaus angesehen.
Der Stil der Theaterkunst von heute zeichnet sich vor allem durch
Vulgarität
aus. Besonders
charakteristisch war in diesem Zusammenhang die Nummer „Eine Frau wäscht sich“,
in der der Regisseur nicht nur alle
Teile des weiblichen Körpers darstellen ließ,
sondern so weit ging, dass unter
dem unbeschreiblichen Applaus des Publikums die Wölbung
weiblicher Brüste in
die Luft gezeichnet und sich mit einem Handtuch einige Male zwischen
den Beinen
hin und her gefahren wurde, um zu zeigen, wie eine Frau sich ihr
Geschlechtsorgan abtrocknet. Samstag,
5. Mai 1945
Der
Buchhändler,
ein Bayer, ein kleiner, stämmiger Knorr, hat wirklich und
wahrhaftig einen
Russen angebrüllt. Dies geschah, als ein Ivan die
wasserschleppende
Buchhändlerin kurz vor der Wohnungstür abfing. Den
Mann lässt
die Frau nicht zur Pumpe, er war in der Partei. Die Frau kreischte, ihr
Mann
kam aus der Wohnung gerannt, ging auf den Ivan los und schrie „Du verfluchter Sauhund! Du
Schwanz!“ Und
die Saga
meldet weiter, wie der Russe klein wurde, wie er einschrumpfte, wie er
kniff.
Es geht also doch. Der Bursche hat mit seiner Tier- und
Barbarenwitterung
gespürt, dass der Ehemann rot sah, dass ihm in der Sekunde
alles, aber auch
alles gleich war, und hat ihm die Beute gelassen. 14.11.1945,
1 Uhr nachts
Auf
der
Rückfahrt von Berlin nach Felden fragte mich im Zug ein mir
gegenübersitzender
Deutscher, ganz unvermittelt und ernsthaft, „Wird
Deutschland wieder groß und stark werden?“
Schlussfolgerung spare ich mir. Denn die Frage an sich ist so zynisch,
dass
eine Antwort oder ein Kommentar nichts bringt. „Von
Urlaub wissen die wenigsten Russen was, das habe ich schon
herausbekommen. Fast
alle sind sie seit Kriegsbeginn, seit beinahe vier Jahren also, von
ihren
Familien getrennt. Frau Lehmann meint verständnisvoll, ja, das
entschuldigt so
manches.“
Zwischen
6.12. und 20.12.1945,
Kremmen
Die
Mutter freute sich über die Lebensmittel, wie ich es auch am
Vortag erwartet
hatte. Aber
mit ihrem
Verhalten und ihrer Habsucht raubte sie mir die letzte Geduld und
vergiftete
meine Gefühle derart, dass sogar meine Zuneigung für
das Mädchen halb erlosch.
Ich gab ihr ein kleines Glas mit Fett und schlug vor, Bratkartoffeln zu
machen
und dann mit ihnen zu Abend zu essen. In der Pfanne schwamm bereits
irgendeine
Flüssigkeit und ich ging hin und schnitt mit dem Messer ein
Stück von dem Fett
ab, das ich mitgebracht hatte, und wollte es schon in die Pfanne geben. Da
fuhr die Alte
zusammen, stieß ein Schrei aus, stürzte auf mich,
schrie wie besessen und
wollte es mir wegnehmen. „Was
ist los?“
fragte ich
verwundert. „Warum?“
Sie
erklärte, das sei für sie, für morgen und
die anderen Tage, und heute müsse ich
ihre Brühe essen. „Das
passte mir nicht. Ich wusste, dass anständige Leute so etwas
nicht tun, und
meine Empörung war grenzenlos.“
Schon
habe ich
die erste große Reise hinter mir. Es kam ganz
überraschend. Ich hockte auf der
Fensterbank, obwohl man auf der Straße nur selten einen
Menschen sieht, außer Westpolen
und Russen. Da, ein Russe kommt herangeradelt, fällt vor
unserer Tür der Major. „Ich?“
So gleich
treppabgerannt. Ein
blitzblankes, neues, deutsches Herrenrad. Ich bitte und bettele, darf
ich ein
Stück fahren, bloß fünf Minuten, der Major
steht am Bordstein und wiegt das
Haupt. Er weiß nicht recht, befürchtet, dass mir das
Rad unterwegs gestohlen
werden könnte. Schließlich
bekam ich ihn herum. Ich trete die Pedale so schnell ich kann. Ich
sause, weil
es mich glücklich macht nach all der elenden Sesshaftigkeit.
Vorüber an
schwarzverbrannten Ruinen. Je
weiter ich
südwärts fahre, desto mehr weicht der Krieg
zurück. Hier sieht man bereits
Deutsche in Gruppen beisammenstehen und schwatzen. An unserer Ecke
wagen die
Menschen das noch nicht. Sogar Kinder sieht man. Hohlwangig und
eigentümlich
lautlos. 23.12.1945
Zum
ersten Mal erkannte ich das Weib nach dem Krieg in Berlin. Und auch nur
deshalb, weil sich eine selbst dafür angeboten hatte. Seitdem
habe ich fünf auf
meinem Konto. Von
denen drei auf Berlin entfallen und zwei auf Felden. Dabei ist eine von
diesen
fünfen die Prostituierte vom Alexanderplatz. Die
nächste die mit dem Tripper. Erstaunlich,
dass ich mich nicht angesteckt habe. Die dritte war widerlich. Die
vierte hatte
eine enge Spalte, an der ich mir mein Instrument wundrieb und
anschließend mit
gespreizten Beinen herumlaufen musste. Nur ein einziges Erlebnis mit einer Frau hat sich mir eingeprägt und war nach meinem Geschmack. _________________________________ Dienstag,
8. Mai 1945, mit Montagsrest.
Weg.
Alle weg.
Wir können es kaum fassen. Blicken unwillkürlich
Straßen aufwärts, als müssten
von dort her Lastwagen mit neuen Truppen anrollen. Aber
nichts. Nur
Stille. Seltsame Stille. Keine Gäule mehr, kein Pferdewiehern,
kein Hahn. Bloß
Pferdemist. Und den fegt Portiers Jüngste soeben aus dem
Hausflur. Ich
sehe mir die
Sechzehnjährige an, die einzige bisher, von der ich
weiß, dass ihre
Jungfräulichkeit an Russen verlor. Sie hat dasselbe dumme,
selbstzufriedene
Gesicht wie immer. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre,
wenn mir dies
Erleben zum ersten Mal auf solche Art zuteil geworden wäre. Ich
muss den
Gedanken abbremsen. Sowas ist nicht vorstellbar. Eines ist klar.
Wäre an dem
Mädel irgendwann in Friedenszeiten durch einen herumstreuenden
Kerl die
Notzucht verübt worden, wäre hinterher das
übliche Friedensbrimborium von
Anzeige, Protokoll, Vernehmung, ja von Verhaftung und
Gegenüberstellung,
Zeitungsbericht und Nachbarngetue gewesen. Das Mädel
hätte anders reagiert,
hätte einen anderen Schock davongetragen. Hier aber handelt es
sich um ein
Kollektiverlebnis, vorausgewusst, viele Male vorausbefürchtet,
um etwas, das
den Frauen links und rechts und nebenan zustieß, das
gewissermaßen dazugehörte. Diese
kollektive
Massenform der Vergewaltigung wird auch kollektiv überwunden
werden. Jede hilft
jeder, indem sie darüber spricht, sich Luft macht, der anderen
Gelegenheit
gibt, sich Luft zu machen, das Erlittene auszuspeien, was
natürlich nicht
ausschließt, dass feinere Organismen als diese
abgebrühte Berliner Göre daran
zerbrechen oder doch auf Lebenszeit einen Knacks davontragen. Zwischen
15. und 20.04.1946
Bahnhof
Treptow. Die
Deutschen
werden frech, sie bringen keinen Respekt mehr, sie fürchten
sich nicht mehr
davor, kleine Gemeinheiten zu begehen, uns zu belästigen, sind
ekelhaft
aufdringlich, schnorren und fühlen sich im Allgemeinen als
gute
"Kameraden", mit denen man vertraut sein kann. Wir haben hier zwei
Verhaltensstrategien: eine offizielle - korrekte, menschliche, aber
feste - die
einer Besatzungsmacht entspricht. Unsere Leute folgen dieser Strategie
nicht
immer und nicht überall. Die zweite Strategie basiert auf den
ungeschriebenen
Gesetzen der Entwicklung von uns allen und jedes einzelnen von uns.
Manche sind
diszipliniert und kultiviert, aber wütend auf die Deutschen,
weil sie deren
Grausamkeit erlebt haben. Einige meiden sie und betonen bei Gelegenheit
ihre
Verachtung für sie. Einige aus dieser Gruppe weigern sich
absichtlich, Deutsch
zu lernen. All
diese
Unterschiede in der Entwicklung und im Verhalten der Rotarmisten
gegenüber der
einheimischen Bevölkerung führen dazu, dass man uns
für gutherzige und einfache
und zugleich grobe und sogar wilde Menschen hält; nicht selten
werden wir
verspottet, obwohl wir die Herren und Sieger sind. Aber dieses Thema
verdient
eine tiefergehende Analyse und Erörterung und nicht so eine
oberflächliche wie
jetzt hier unterwegs im Zug. Viele
der
Letzteren lernen bewusst kein Deutsch. Andere wiederum sind
bemüht, die Sprache
der Deutschen, ihre Sitten und Lebensumstände kennenzulernen
und versuchen,
ihre Kenntnisse so weit wie möglich zu erweitern, haben Umgang
mit Deutschen
und unterhalten sich viel mit ihnen, streiten sogar mit ihnen
über alle
möglichen Fragen des Lebens. Diese fügen unserer
Politik auf deutschem Boden
keinen Schaden zu. Dann
gibt es
aber noch eine andere Kategorie. Die Säufer, Diebe, Raufbolde
und Psychopathen.
Diese sorgen nur für Radau und untergraben unsere
Autorität. Die
dritte
Kategorie, das sind die Ganzliberalen, die durch die Hitlerleute kein
Leid
erfahren mussten. Unter denen sind solche, die sich hier verlieben,
sich
vergnügen und sich gar verbeugen. Wie
es denn sein konnte, dass nach diesem furchtbaren Krieg die
Angehörigen der
Roten Armee, ob sie nun in politischer Verantwortung waren oder nicht,
so
vergleichsweise schnell vom Hass wieder abließen. Hass als
die tragende
Gemütslage, als das Motiv während der ersten
Begegnung mit den Deutschen. Das
ist unumstritten. Auf
der anderen Seite, und das ist nicht nur im Gelfand-Text so, sondern
auch bei
anderen Texten aus der Zeit nach Abschluss des Krieges, tritt ein,
vergleichsweise schnelles, Abklingen dieses Hasses ein. Und gerade in
Deutschland muss sich der aufmerksame Leser fragen, wie kann denn das
passieren. Aus meiner Sicht sagen sehr viele Quellen, dass schon recht
bald ein
zumindest neutrales deutsches Bild um sich griff. Ich
denke, es hat damit zu tun, dass das Feindbild, das die sowjetischen
Soldaten
mit sich nahmen, als sie deutsches Territorium eroberten,
tatsächlich kein
rassistisches war. Das ist ein Bild von einem grausamen Tier, von einer
bösen
Bestie, die verführt worden ist durch böse Ideen.
Aber hinter diesem Feindbild
scheint sich sehr schnell doch wieder auch ein Menschenbild entwickeln
zu
können. Oder
anders gesagt, das Menschenbild war möglicherweise niemals so
sehr infrage
gestellt, hinter diesem Feindbild, dass es nicht schnell wieder
rekapituliert
und aufgebaut werden konnte. Also das wird auch schon bei Gelfand, der
Krieg
ist noch gar nicht zu Ende, in den Frauen, denen er begegnet, nicht die
Frau
des Feindes, sondern eine Frau gesehen. Das ist eigentlich erstaunlich. |
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Transkribiert von TurboScribe.ai. |