"Nicht weit von hier wird gekämpft, doch die Vertreter der Armee, der Front und des Armeekorps sind schon da, und es gibt sehr viele Wagen und Leute. Alle wollen schnell nach Berlin, und die Trosse holen die Vorhut ein, der Nachschub schließt zu den Trossen auf. Jetzt ist es nicht mehr weit bis Berlin, 40 Kilometer vielleicht, wenn nicht sogar weniger."
Wladimir Gelfand, Offizier der Roten Armee
Nach russischer Militärtradition wurde derjenige Armeeführer Stadtkommandant, dessen Truppen als erste auf das Gebiet einer Stadt vorgedrungen waren. Da die Verbände Nikolai Bersarins am 21. April 1945 entlang der Reichsstraße Nr. 1 – an der Wuhlebrücke nahe dem Haus Landsberger Allee 563 – erstmals Stadtgebiet erreichten, wurde Bersarin am 24. April 1945 zum Berliner Stadtkommandanten ernannt. Bis zu seinem Unfalltod am 16. Juni 1945 wird Bersarin dieses Amt innehaben – wobei er sich große Verdienste in der Organisation des Überlebens Berlins während dieser Zeit erwirbt. Soldat der 5. Stoßarmee Bersarins war auch der 21-jährige Offizier Wladimir Gelfand, dessen Notizen vom 18. April 1945 das Zitat entstammt. In seinem Tagebuch vermerkt er die Strapazen der weiten Tagesmärsche und harten Kämpfe ebenso wie die Herablassung, aber auch Angst, mit der die Deutschen den Russen begegneten. Er beschreibt die Euphorie aufgrund des nahen Sieges ebenso wie seine Abscheu vor den massenhaften Vergewaltigungen deutscher Frauen durch andere Rotarmisten, deren Zeuge er durch Berichte wird. In Gelfands Marschgepäck befand sich seit dem 30. Januar 1945 eine kleine Goethe-Büste, die er während der Plünderung eines Hauses bei Kienitz an der Oder rettete: „Niemand verbietet uns, den Deutschen das zu nehmen und zu zerstören, was sie zu vor bei uns geraubt haben. […] Gestern zum Beispiel hat Rybkin eine Büste von Schiller zerschlagen und hätte wohl auch Goethe vernichtet, wenn ich ihn diesem Narren nicht aus den Händen gerissen, […] hätte. Genies können nicht mit Barbaren gleichgesetzt werden, und ihr Andenken zu zerstören ist für einen zivilisierten Menschen eine große Schande.“
Anmerkung
Wladimir Gelfand: Deutschland-Tagebuch 1945–1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten. Aus dem Russischen von Anja Lutter und Hartmut Schöder. Ausgewählt und kommentiert von Elke Schersjanoi, Berlin 2005, S. 77 und S. 29.