Angela Gutzeit im Gespräch mit der
Slawistin und Journalistin Karla Hielscher über folgende
Bücher:
1.) Swetlana
Alexijewitsch: "Die letzten Zeugen" - Kinder im
Zweiten Weltkrieg (Aufbau Taschenbücher)
2.) Wladimir Gelfand:
"Deutschland-Tagebuch 1945-1946" (Aufbau Verlag)
Heute,
am 28.
April vor 60 Jahren, waren es nur noch wenige Tage bis zum Ende des
Zweiten
Weltkrieges.
Truppen
der Roten
Armee hatten in Berlin bereits die Spree überschritten und
immer noch gab es
Kämpfe in den Außenbezirken der Reichshauptstadt. Am
2. Mai kapitulierte
Berlin, am 8. Mai willigte das besiegte Nazideutschland in die
vollständige und
bedingungslose Kapitulation ein. Von Bombardierung deutscher
Städte, von
Vertreibungen und den letzten Tagen im Führerbunker haben wir
in den
vergangenen Monaten bereits sehr viel gehört.
Wenden
wir uns
anlässlich des nahenden 8. Mai einmal der Siegerseite zu,
deren Sieg durch
viele Millionen Tote schwer errungen war, den Soldaten und der
Bevölkerung der
ehemaligen Sowjetunion.
Im
Studio begrüße
ich die Slawistin, Buchautorin und Journalistin Karla Hilscher. Wir
wollen über
zwei Bücher sprechen.
Beide
sind im
Aufbau Verlag erschienen. Das eine von Svetlana Aleksejewitsch widmet
sich den
Kindern in Weißrussland und trägt den Titel
»Die letzten Zeugen, Kinder im
Zweiten Weltkrieg«. Das andere ist ein Tagebuch von einem
Schreiber, der uns
bislang noch nicht bekannt war, Wladimir Gelfand,
»Deutschlandtagebuch 1945 bis
1946, Aufzeichnungen eines Rotarmisten«.
Karla
Hilscher,
wer war Wladimir Gelfand? Wir haben von ihm noch nichts gehört
bislang.
Der
Wladimir
Gelfand war ein Leutnant der Roten Armee, also ein einfacher Soldat. Er
stammt
aus einer jüdischen Familie aus der Ostukraine und er hat also
den ganzen Krieg
ab 1942 auch an der Front mitgemacht.
Dieses
Tagebuch
schildert nun den ganzen Kampf um Berlin und das erste Nachkriegsjahr,
also von
Januar 1945 bis September 1946.
Wann
wurde
Gelfand geboren?
Er
ist Jahrgang
1923.
1923,
stammt aus
einer jüdischen Familie.
Die
Aufzeichnungen wurden von Gelfands Sohn Vitali der
Öffentlichkeit zugänglich
gemacht und ausgewählt und kommentiert von der Historikerin
Elke Schestianoi.
Gelfand
war ein
geradezu fanatischer Tagebuchschreiber, wird uns wenigstens im Vor- und
Nachwort nahegebracht. Er hatte 1983, als er starb, einen ganzen Koffer
voll
von Aufzeichnungen hinterlassen.
Dieses
Buch ist
also, Karla Hilscher, eine Auswahl, anders kann es auch gar nicht sein.
Was
würden Sie sagen, nach welchen Kriterien, wie ist das
zusammengestellt worden,
weil es ist ja nicht nur Tagebuch?
Ja,
ich denke,
man muss schon sagen, dass das sehr auch sehr seriöse,
eigentlich sogar
wissenschaftliche Weise von der Historikerin Elke Schestianoi gemacht
worden
ist. Die hat ja auch gerade eine riesen Dokumentation von Briefen von
Rotarmisten aus Deutschland publiziert und ich denke, sie hat das sehr
gewissenhaft ausgewählt und kommentiert.
Es
sind große
Teile des Tagebuchs, also aus diesen anderthalb Jahren, aber es sind
auch
Briefe an die Eltern, an Freunde miteingefügt und
außerdem auch Eingaben an
Vorgesetzte.
Was
glauben Sie,
warum das jetzt erst rausgekommen ist? Das lag, glaube ich, an seinem
Sohn
Vitaly, der sich irgendwann mal entschlossen hat, das rauszubringen.
Das
weiß ich
jetzt nicht so genau, aber der Vitaly ist ja erst 1995 aus Russland
nach
Deutschland gekommen, nach Berlin und hat offensichtlich dann Kontakt
mit dem
Institut für Zeitgeschichte, wo die Elke Schestianoi arbeitet,
gekriegt.
Und
man hat also
diese Ausgabe geplant, die wirklich eine ganz interessante,
authentische
Perspektive mit einer völlig anderen Sicht auf diese
verrückte Umbruchszeit
gibt.
Kriegsende
in
Berlin. Die Russen kommen, hieß es damals, angstvoll.
Man
befürchtete ja nicht ohne Grund
Racheakte und die Nazis haben damit auch noch ordentlich Propaganda
betrieben
vorher. Was folgte, ist durch viele Familienerzählungen, daran
erinnere ich
mich selbst auch in meiner Berliner Familie, in Tagebüchern
von deutschen
Frauen und anderen Quellen ist das alles verbirgt. Russische Soldaten
begingen sexuelle
Gewaltorgien gegen Frauen und Mädchen.
In
Gelfands Buch wird das nicht verschwiegen,
aber auch nicht, wie ich finde, in seiner ganzen Dimension
thematisiert.
Das
ist ja ein
ganz subjektives, ganz privates Tagebuch. Also man darf nicht
vergessen, das
ist ein junger Mensch von 22 Jahren, der natürlich im Krieg
schon vieles und
Schreckliches erlebt hat, aber eigentlich ein unglaublich neugieriger,
unternehmungslustiger Mensch.
Und
ja, eigentlich muss man sagen, dass dieses Tagebuch auch das
erotische Tagebuch eines jungen Mannes ist, der so seine ersten
Erfahrungen
macht. Und das ist natürlich ganz, ganz wichtig, dass er nie
so Gewalt ausgeübt
hat, sondern eher auf der Suche nach der großen Liebe sich
eigentlich zu so
einem Schürzenjäger entwickelt hat, der mit vielen
deutschen Frauen Kontakte
hatte. Aber es ist ganz klar, dass da nie Gewalt im Spiel war.
Vielleicht
lese
ich mal so gerade eine Textstelle. „…Ich
hätte gern die Zärtlichkeiten der schönen
Marianne in vollen Zügen genossen. Küsse und
Umarmungen allein waren nicht
genug. Ich hatte mir mehr erhofft, wollte sie jedoch nicht
drängen. Ihre Mutter
ist mit mir zufrieden. Wäre ja auch noch schöner,
schließlich hatte ich auf dem
Alltag für vertrauensvolle und wohlwollende Beziehungen
Lebensmittel,
Süßigkeiten, Butterwurst und teure deutsche
Zigaretten niedergelegt…“ Also man
sieht, er hat sogar Kontakt mit der Mutter.
Da
muss man
vielleicht auch nochmal sagen, es gibt ja eine Stelle, wo er durchaus
das
thematisiert, dass es Vergewaltigungen und auch Massenvergewaltigungen
gegeben
hat. Und es ist so gewesen, dass eine junge Frau und deren Mutter ihn
anflehen,
dass er sie zu seiner Geliebten macht, weil das dann sie
schützen würde vor
Vergewaltigungen durch andere. Also der Wladimir war ein neugieriger,
unternehmungslustiger junger Mann.
Ach,
das ist
vielleicht wichtig zu sagen. Er hatte große Ambitionen. Er
wollte nämlich
Schriftsteller werden.
Und
das ist auch
ein Grund, weshalb er so intensiv Tagebuch geführt hat und
alles gesammelt hat.
Und das ist auch interessant. Einerseits ist das ein sehr subjektives,
privates, direkt auch intimes Tagebuch.
Manchmal
aber
gibt es so ganze Stellen, die sehr pathetisch sind, wo man so merkt, da
will er
seine literarischen Fähigkeiten schulen. Er ist
übrigens nie Schriftsteller
geworden. Zu dem großen Kriegsroman, den er schreiben wollte,
ist es dann auch
nie gekommen.
Ist
es offensichtlich
nie gekommen. Da hatte er sich vielleicht ein bisschen
überschätzt.
Würden
Sie sagen,
dass das Tagebuch viel offenbart über den damaligen Kontakt
zwischen Siegern
und Besiegten im besetzten Berlin?
Doch,
das denke
ich schon.
Das
Interessante
ist ja auch, Wladimir Gelfand arbeitet in so einer
Trophäenbrigade. Er ist bei
der Demontage und beim Abtransport von Demontagegütern
beschäftigt. Das gibt
ihm die Möglichkeit, sehr viel zu verreisen und sehr viel
unterwegs zu sein.
Und
er ist ein
ganz schöner Hallodri gewesen. Man merkt, der hat sich sehr
oft von der Truppe
entfernt. Er ist alles andere als ein disziplinierter Leutnant gewesen
und
hatte deshalb häufig auch Schwierigkeiten.
Wo
Sie jetzt
gerade sagen, Hallodri, es soll jetzt nicht plump klingen. Aber ich
hatte bei
der Lektüre mir gedacht, der Mann hat ja so viel erlebt, auch
an Kriegsgräuel.
Er war seit 1942 kämpfender Soldat.
Er
war bei
Stalingrad im Einsatz. Er war Jude, hatte irgendwann mal erfahren, dass
ein
Teil seiner Familie väterlicherseits im Holocaust umgekommen
ist. Und was tut
er in Berlin? Er lässt sich Dauerwellen legen, er
lässt sich in Dandy-Pose
fotografieren, er flirtet mit den Mädchen.Wie ist das zu
verstehen? Als
Erleichterung?
Ja,
das denke ich
schon. Außerdem ist es ein ungeheuer lebenslustiger junger
Mann. Es ist
irgendwo ein mittelmäßiger Mensch mit vielen
Komplexen, aber voller
Lebensfreude, voller Lebensgier, auch nach diesen
fürchterlichen
Kriegsgeschehen.
Und
irgendwo
meine ich auch, er ist ein sehr typischer Sowjetbürger. Also
er himmelt Stalin
an und zwischendurch gibt es auch immer lange Passagen, wo er absolut
ideologisch schreibt. Aber dann ist es zum Beispiel so, er hat eine
solche
Lust, wirklich sein Leben zu genießen.
Er
sagt an einer
Stelle, er möchte, Zitat ist das, ein winziges Stück
Lebensglück, wenn es das
denn geben sollte, in Deutschland genießen. Und das ist
nämlich interessant. Er
ist auch Mitglied der Kommunistischen Partei und arbeitet also in der
Politerziehung.
Aber
andererseits, als dann im August 1945 der Erlass von Zhukov kam, der
die
Fraternisierung mit Deutschen verbot, hat er sich furchtbar aufgeregt
und
schrieb Folgendes in sein Tagebuch. »Es ist uns verboten, mit
den Deutschen zu
sprechen, bei ihnen zu übernachten, einzukaufen. Jetzt
verbietet man uns das
Letzte, sich in einer deutschen Stadt aufzuhalten, durch die
Straßen zu gehen,
die Ruinen anzuschauen.
Nicht
nur den
Soldaten, auch den Offizieren, das kann doch nicht sein. Wir sind
Menschen, wir
können nicht in einem Käfig sitzen, umso mehr, als
unser Dienst nicht am
Kasernentor endet und die Bedingungen und das Leben in den Kasernen uns
bereits
verflixt noch mal zum Halse heraushängen. In der Armee ist
jeder nur für sich
selbst verantwortlich und ich werde das jetzt auch versuchen.
Was
ich will?
Freiheit. Die Freiheit zu leben, zu denken, zu arbeiten, das Leben zu
genießen.“
Das finde ich nun für so einen jungen Sowjetbürger
schon sehr beeindruckend.
Er
schimpft aber
nicht nur über diesen Erlass, er schimpft in einer Tour
eigentlich, wenn man
dieses Tagebuch liest, auch vorher schon, bevor Berlin erobert wurde,
über
Kameraden, die ihn irgendwie übel wollen, die ihn
verprügeln wollen, über
Vorgesetzte, er beschwert sich über Denunziationen,
über Racheakte. Also das
ist gewaltig und lässt auch, also ich finde das, für
mich war es ein sehr
interessanter Aspekt, das so zu lesen, weil man hatte ja schon fast aus
diesen
Schilderungen heraus das Gefühl, da ist eine Armee in
Auflösung begriffen.
Ja,
ich denke,
das ist auch ein sehr wichtiger Aspekt, dass man sieht, gerade in den
letzten
Kriegsmonaten, was für Zustände da in der Roten Armee
herrschten.
Er
beschreibt
mehrmals, wie sich alle betrinken, wie es sogar zu Alkoholvergiftungen
kommt.
Er beschreibt, dass er von seinem Hauptmann verprügelt wurde.
Also wirklich
diese absolute Auflösung und Disziplinlosigkeit ist schon sehr
bedrückend, wenn
man sich das vorstellt.
Andererseits
glaube ich auch, dass der Wladimir Gelfand schon ein Mensch mit
Komplexen war.
Also der hat sich ständig zurückgesetzt
gefühlt. Auch als Jude denunziert.
Ja,
ich wollte
gerade sagen, das spielt sicher eine Rolle. Das schreibt er auch in
einem Brief
an den Vater, dass er als Jude auch natürlich
Hänseleien ausgesetzt war. Aber
andererseits kann man sich auch vorstellen, in dieser groben, brutalen
Armeeatmosphäre, wenn da einer immer sitzt und Tagebuch
schreibt, dann ist er
schon als Intellektueller lächerlich für viele seiner
Kameraden.
Da
gab es
offensichtlich keine Einschränkung. Wenn jemand Tagebuch
schreiben wollte,
konnte er reinschreiben, was er wollte, hatte ich das Gefühl.
Es geht ja
ziemlich weit, was er da über seine Vorgesetzten schreibt.
Stellen
Sie sich vor, das Tagebuch wäre
konfisziert worden.
Elke
Schastianoy,
die sich ja mit dieser Problematik auseinandersetzt, sagt, das ist noch
nicht
genau untersucht. An der Front war Tagebuchschreiben verboten.
Man
kann sich
vorstellen, weshalb. Aber offensichtlich, wir hätten dieses
ganze Material
nicht, wenn das so streng durchgehalten worden wäre. Denn der
Wladimir hat
offensichtlich auch keinerlei Angst oder er schreibt halt wirklich
alles rein.
Das
Tagebuch ist,
wie ich finde, vorzüglich ausgestattet mit Kommentaren und
Anmerkungen.
Trotzdem meine Frage, was garantiert eigentlich den authentischen
Charakter
dieses Tagebuchs? Ist es nachträglich bearbeitet worden? Ist
was verändert
worden?
Das
schreibt die
Herausgeberin Elke Schastianoy auch im Nachwort sehr genau.
Natürlich hat sie
ausgewählt.
Also
sie hat eben
auch Dokumente ausgewählt, Briefe und Eingaben an Vorgesetzte,
wo er sich
beklagt und so weiter. Und sie hat sich bewusst auf diese Zeit von
Januar 1945
bis September 1946 eingeschränkt. Also ich denke, man kann
schon von einem
höchsten Maß von Authentizität dieses
Textes ausgehen.
Ich
finde es
gerade auch interessant, wenn man spürt, die Ambitionen, die
dieser junge Mann
hatte, der halt Schriftsteller sein wollte. Da merkt man auch so diese
Unsicherheit, wie er mal wirklich seinen eigenen, ganz subjektiven,
privaten
Dinge schreibt und andermal plötzlich kommt so eine etwas
gestellste,
pathetische Sprache zum Zuge, wo man merkt, ach, das ist jetzt
Material, was er
für seinen späteren großen Kriegsroman hier
vielleicht schreibt. Aber gerade
das gehört, denke ich, zu der Authentizität dieser
Person, Wladimir Gelfand.
Kurze
Frage,
bitte eine kurze Antwort. Es lohnt sich, das Buch zu lesen?
Absolut.
Wladimir
Gelfand,
Deutschland, Tagebuch 1945 bis 1946, Aufzeichnungen eines Rotarmisten,
erschienen im Aufbau Verlag.
Das
Buch hat 357 Seiten und kostet 22,90 Euro. Es wurde aus dem
Russischen übersetzt von Anja Luther und Hartmut
Schröder. Und nun zu Svetlana
Aleksejewitsch, die letzten Zeugenkinder im Zweiten Weltkrieg.
Ich
sag's mal so,
ein völlig schnörkelloses und deshalb umso schwerer
erträgliches Buch, Karla
Hilscher. Es erscheint auf Deutsch nicht das erste Mal.
Ja,
es ist das
zweite Buch von Svetlana Aleksejewitsch, die ja eine ganz neue Art der
dokumentarischen Literatur für sich erarbeitet hat, in der sie
die Geschichte
der Sowjetunion bis zum Zusammenbruch wirklich fast chronologisch
darstellt.
Ihr
erstes Buch
war Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Das ist 1985 in der
Sowjetunion noch
erschienen und direkt zur gleichen Zeit auch Die letzten Zeugen. Sie
hat für
sich eine neue Art von dokumentarischer Literatur gefunden, dass sie
nämlich
aus Interviews mit Hunderten der unterschiedlichsten Menschen ihre
Texte
zusammenstellt.
Und
nachdem sie
in diesem Der Krieg hat kein weibliches Gesicht mit Hunderten Frauen,
die im
Krieg gekämpft hatten, Interviews geführt hatte, hat
sie begonnen mit Menschen
zu sprechen, die in der Kriegszeit noch Kinder waren.
Es
sind 101 kurze
Erinnerungsausschnitte, frühkindliche Erinnerungssplitter. Und
die sind immer
fokussiert auf einen unauslöschlichen Augenblick, auf eine
Erfahrung mit der
Kriegsgewalt, mit Tod, brennenden Dörfern,
Erschießungen, Verlust der Eltern
mitten im Gewühl. Unmittelbar erlebte Gewalt wird
plötzlich wieder präsent. Und
man hat am Ende des Buches das Gefühl, wenn man wirklich alle
Passagen gelesen
hat, was schon sehr schwierig ist, dass hier eine wirklich
traumatisierte
Generation noch einmal zur Sprache gefunden hat.
Das
berichtet
Svetlana Alexijewitsch ja immer, dass sie in ihren Interviews wirklich
Erinnerungen weckt, die ganz stark verdrängt worden sind.
Das
ist auch oft
eine ganz schwierige, bewegende, gemeinsame Arbeit der Interviewerin
mit diesen
Menschen gewesen.
Vielleicht
hören
wir mal eine Stelle.
Ja,
zum Beispiel
eine, wo man einfach sieht, dass die Kinder überhaupt nicht
verstehen, was
passiert.
Dann
erinnere ich
mich noch. Schwarzer Himmel und ein schwarzes Flugzeug. Neben der
Landstraße
liegt unsere Mama mit ausgebreiteten Armen.
Wir
bitten sie
aufzustehen, aber sie bleibt liegen, steht nicht auf. Soldaten
wickelten Mama
in eine Zeltplane und begruben sie im Sand, an derselben Stelle. Wir
schrien
und bettelten, vergrabt unsere Mama nicht in der Grube, sie wacht
wieder auf
und dann gehen wir weiter.
Über
den Sand
krabbelten irgendwelche großen Käfer. Ich konnte mir
nicht vorstellen, wie Mama
unter der Erde mit ihnen leben sollte. Wie sollten wir sie
später wiederfinden?
Wie sollten wir uns treffen? Wer sollte unserem Papa schreiben? Ein
Soldat
fragte mich, wie heißt du Mädchen? Aber ich hatte es
vergessen.
Und
dein
Familienname, wie heißt deine Mama? Ich erinnerte mich nicht.
Eine
ungeheure
Wucht merkt man hier, dieser kindlichen, unauslöschlichen
Erlebnisse. Und die
werden, finde ich, auch sehr oft an der Sprache kenntlich, die Svetlana
Aleksejevic so gelassen hat.
Man
hört häufig so ein Gestammel raus, dass alte
Menschen, es waren ja
dann alte Menschen, plötzlich wieder wie Kinder
erzählen. Zeit und Distanz sind
offensichtlich weggewischt, aufgehoben. Das ist ein Phänomen
und ich glaube
auch eine Qualität der Interviewerin Svetlana Aleksejevic,
dass sie das so
geschafft hat, dass die Menschen sich wieder so reinversetzen in dieses
Erlebnis.
Sie
hat häufig
erzählt, dass sie Stunden, ja Tage mit diesen Menschen erst
verbracht hat und
mit ihnen geredet hat, bis es dann zu dem Moment kam, wo die einfach
auch diese
Erinnerungen wieder zulassen konnten und wo diese Erinnerungen dann aus
ihnen
herausbrachen.
Svetlana
Aleksejevic wählt häufig ein
journalistisch-dokumentarisches Verfahren. Also
hier tritt sie als Interviewerin auf und trotzdem wird ihr Verfahren
auch als
literarisch bezeichnet.
Inwiefern?
Ja,
ich denke,
die Arbeit von Svetlana Aleksejevic geht weit über das rein
Journalistische
hinaus. Sie hat also hunderte Stimmen von Menschen gesammelt und diese
Stimmen,
häufig in anderen Büchern, ist das sogar noch
ausgeführt. Also zum Beispiel in
ihrem berühmten Tschernobyl-Buch, was wie ein Oratorium
angelegt ist, wo Chor
und Einzelstimmen sich abwechseln.
Also
das ist in
einer Weise sprachlich durch die Auswahl, durch Form von Wiederholungen
ganz
leicht bearbeitet, ohne dass auch nur ein einziges Wort von ihr
hinzugefügt
wurde. Und deshalb spürt man auch in diesem Buch, dass das
eigentlich übergeht
in Literatur.
Svetlana
Aleksejevic, die letzten Zeugen Kinder im Zweiten Weltkrieg, aus dem
russischen
von Ganna-Maria Braungart, erschienen als Taschenbuch, ebenfalls wie
das
Gelfand-Buch im Aufbau-Verlag.
Das
Buch hat 320 Seiten und kostet 8,95 Euro.
Wir
sind am Ende
unserer Sendung. Ich bedanke mich bei Carla Hilscher für
dieses Gespräch.
Das war der Büchermarkt. Nach den Nachrichten folgt Forschung aktuell. Es moderierte Angela Gutzeit.