Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes
veröffentlichte der Aufbau-Verlag im Frühjahr die
Tagebuchaufzeichnungen Wladimir Gelfands, eines Leutnants der Roten
Armee, die während seines Aufenthalts in Deutschland 1945 bis
1946 entstanden sind. Ein werbewirksames Versprechen
gewährt,„tiefe Einblicke in die Gedanken und
Gefühle eines Siegers aus Stalins Armee“.[1] So werben
Verlage heutzutage, um eine breite, das
„Authentische“ suchende Lesergemeinde. Zweifellos
ist hier eine bisher einzigartige Veröffentlichung gelungen
und die Zeitgeschichtsforschung um eine seltene Entdeckung bereichert
worden. Die Herausgeberin des
„Deutschland-Tagebuchs“, Elke Scherstjanoi,
Historikerin am Institut für Zeitgeschichte, hat sich seit
Jahren in ihren Forschungen zur Kriegs- und Nachkriegszeit immer wieder
auch mit privaten Erinnerungszeugnissen befasst.[2] Die vorliegende Publikation
erfüllt daher alle Ansprüche einer kompetenten
Quellenbearbeitung. Für die Publikation hat die Herausgeberin
die Auswahl der Texte wie auch den ausführlichen Kommentar auf
ein deutsches Leserpublikum abgestimmt. Das
„Deutschland-Tagebuch“ setzt sich zusammen aus
fortlaufenden Tagebuchnotizen, ergänzt durch lose Notizen,
Dienstdokumente, Briefe und Fotografien, die sämtlich im
genannten Zeitraum entstanden sind.
Wladimir Natanowitsch Gelfand (1923-1983) begann
im Kriegsjahr 1942 mit seinem Eintritt in die Armee Tagebuch zu
schreiben und führte dieses auch nach dem Krieg fort. Zeit
seines Lebens war der spätere Lehrer
ukrainisch-jüdischer Abstammung ein leidenschaftlicher Sammler
und ambitionierter Chronist der eigenen Lebensgeschichte. In jungen
Jahren träumte der gebildete, sensible Mann davon,
Schriftsteller zu werden, was er jedoch nicht realisieren konnte. Er
hinterließ seinen Erben ein beachtliches Konvolut von
Aufzeichnungen, Fotografien und Erinnerungsstücken. Gelfands
Sohn fühlte sich - wie viele Kinder und Enkel der sowjetischen
Kriegsgeneration - verpflichtet, die Kriegszeit des Vaters nicht in
Vergessenheit geraten zu lassen, und brachte so ein seltenes
Zeitdokument ans Licht.[3]
Bisher glaubte man gar nicht an die Existenz von Tagebüchern
„normaler Frontkämpfer“, ging man davon
aus, dass während des Krieges ein strikt organisiertes
Zensurverfahren für private Aufzeichnungen und
Briefkorrespondenzen in der Roten Armee geherrscht hatte. Wenn auch
genauere Forschung noch fehlt, so können wir heute davon
ausgehen, dass das allgemeine Verbot, Tagebuch zu führen, nur
lückenhaft durchgesetzt oder sogar in bestimmten Dienststellen
aufgehoben war. Für Offiziere der Politabteilungen galten
Ausnahmen, wenn die Vorbereitung für Fremdpropaganda oder die
Vernehmung von Gefangenen persönliche Aufzeichnungen
erforderten. Aus den Memoiren des damaligen Politoffiziers Lew Kopelew
erfahren wir von dessen während der Verhaftung konfiszierten
Aufzeichnungen.[4]
Bisher unbekannte Tagebuchautoren sind die 1943 in einem Einsatz
gefallene Navigatorin Galina Dokutowitsch [5] sowie Georgij Soljus [6], ein 1945
in Ostpreußen eingesetzter Politoffizier. Beide Beispiele
sind Zufallsfunde. Wer weiß, wieviel unentdeckte
Tagebücher noch in den russischen Archiven oder in
Privatbesitz existieren?
Das Tagebuch Gelfands genießt
gegenüber anderen „Ego-Dokumenten“
sowjetischer Kriegsteilnehmer deutlichen Vorrang, denn nichts ist
nachträglich verändert oder bearbeitet worden. Zudem
berühren seine Aufzeichnungen zwei alltagsgeschichtliche
Aspekte. Zum einen gibt Gelfand Auskunft über das damalige
Verhältnis von Angehörigen der Roten Armee
gegenüber den Deutschen. Zum anderen erfahren wir von ihm
Details über Alltag und inneren Zustand der Roten Armee,
über materiellen Notstand und mangelnde Ausrüstung,
scharfe oft physisch ausgetragene Konflikte unter Soldaten und
Offizieren und über eine nur lückenhaft durchgesetzte
Disziplin der Truppen beim Vormarsch auf Berlin. Beide Aspekte finden
sich nicht in der sowjetischen wie postsowjetischen Geschichtsdeutung,
die bis heute Sieg und Triumph in den Mittelpunkt stellt. Gelfands
Perspektive wirft auch ein neues Licht auf die deutsche Wahrnehmung von
Kriegsende und Nachkrieg. Wir erfahren von gewaltvollen, brutalen
Übergriffen von Rotarmisten auf die deutsche
Zivilbevölkerung, gleichzeitig aber auch von freiwilligen
Annäherungen - trotz des geltenden Fraternisierungsverbots -
und von erotischen wie materiellen Interessen beider Seiten.
Der Schöngeist Gelfand ist - bei all
seinen künstlerisch-romantischen Neigungen - in erster Linie
ein „normaler Sowjetbürger“. Er
führt uns in die Gedankenwelt eines typischen Vertreters der
damaligen Jugendgeneration ein. Gelfands Altersgenossen - vom
stalinistischen Klima der 1930er-Jahre geprägt und seit dem
deutschen Angriff 1941 für den erfolgreichen Kampf um die
Heimat mobilisiert – hatten die größte
Last des Krieges und des Wiederaufbaus zu tragen.
Seit seiner Einberufung im März 1942
beteiligte sich der damals 19-jährige Gelfand aktiv an der
politischen Arbeit in der Truppe. 1943 erhielt er die
Vollmitgliedschaft in der KPdSU. Er diente an verschiedenen
Frontabschnitten, auch an vorderster Kampflinie, wo er als
Zugführer einer Granatwerfer-, später einer
Schützeneinheit die Härten des Frontalltags erlebte.
Eine Verwundung brachte ihn acht Monate ins Hinterland. Nach einem
Offizierslehrgang hoffte der Sohn eines jüdischen
Metallarbeiters vergeblich auf schnelle Beförderung. Den
Einzug nach Berlin erlebte Gelfand als Stabsoffizier einer Division der
3. Stoßarmee der 1. Weißrussischen Front nicht mehr
im vorderen Frontbereich. Vom Dienstalltag war er damals bereits wegen
anhaltender Schwierigkeiten mit Kameraden und Vorgesetzten
desillusioniert. Er wurde mehrmals versetzt und litt unter -
möglicherweise antisemitisch motivierten - Anfeindungen und
Demütigungen.
Die Zeit nach dem Kriegsende bis zur
Demobilisierung verbrachte Leutnant Gelfand in einer
Trophäenbrigade, er konfiszierte also Güter aus
privatem Besitz. Dies ermöglichte ihm Freiraum für
zahlreiche Erkundungen in der Gegend in und um Berlin. In einem nicht
geringen Maße erlebte der im Umgang mit Frauen unsichere
junge Mann seine Dienstzeit in Deutschland als ein sexuelles Abenteuer.
Seine Kontakte zu deutschen Frauen, die er im Tagebuch
ausführlich schilderte, blieben nicht unentdeckt und brachten
ihm ein Disziplinarverfahren ein. Ungeachtet der Grobheiten und
Reibereien, die Gelfands Dienstalltag deutlich belasteten, blieb dem
jungen Offizier das Selbstbewusstsein eines siegreichen
Frontkämpfers erhalten. Die im Buch veröffentlichten
Fotografien zeigen einen stolzen jungen Offizier vor dem Reichstag und
anderen deutschen Kulturdenkmälern. Wie viele seiner Kameraden
dokumentierte er damit seinen persönlichen Triumph
für die Verwandten zu Hause.
Dem beredsamen, teilweise naiven
alltagssprachlichen Schreibgestus Gelfands stehen nicht selten
umständliche Satzkonstruktionen im Wege. Oft bedient er sich
eines unbeholfenen Pathos, drückt sich - trotz Bildung und
Belesenheit - ungenau aus. Seine Sicht auf den Krieg ist stark von
Propagandainhalten bestimmt. In den Wünschen und
Ängsten des schwankenden jungen Mannes zeigt sich der
Reflexionshorizont eines jungen Frontsoldaten. In manchen Punkten
ähneln seine Phantasien auch denen der Soldaten auf der
anderen Seite des Schützengrabens. In plakativer Weise belegen
dies seine Äußerungen über ein
Gerücht vom angeblichen Kontakt mit einem deutschen
Frauenbataillon (S. 61f.). Die hier dokumentierten Sexualphantasien und
Gewaltvorstellungen von der Frau an der Waffe entsprechen einer
entgrenzten Variante gegenseitiger Feindvorstellungen. [7]
Gelfand ist ein typischer Vertreter der
sowjetischen Kriegsgeneration. Bedingt durch eine psychisch schwer zu
ertragende Ambivalenz von Stolz auf die persönliche Teilnahme
am errungenen Sieg, von stummem Leiden an traumatischen
Kriegserlebnissen und mangelnder Anerkennung in der Nachkriegszeit,
befanden sich die Kriegsveteranen in einem lebenslangen
Spannungszustand. Vor diesem Hintergrund erscheinen Gelfands
Tagebuchnotizen aus der Zeit des „Großen
Vaterländischen Krieges“ umso mehr als ein
sprechendes Zeugnis der Vergangenheit. Wir erfahren, wie ein Mensch in
einer totalitär organisierten Struktur wie der Roten Armee, in
der Ausnahmesituation des Kriegs- und Nachkriegsalltags gelebt und
gedacht hat. Gelfands Aufzeichnungen sind Momentaufnahmen, die den
Menschen als Akteur der Geschichte zeigen.
Eine geplante Veröffentlichung des
Tagebuchs in Russland würde gewiss für die Kinder,
Enkel und Urenkel, die bis heute mit anderen Geschichten der
„Sieger aus Stalins Armee“ konfrontiert sind, von
großem Gewinn sein.
Anmerkungen:
[1]
Gelfand: s.o., Klappentext
[2]
Scherstjanoi, Elke (Hg.), Rotarmisten schreiben aus Deutschland,
München 2004.
[3]
Vitaly Gelfand stellte Aufzeichnungen des Vaters ins Internet: zhurnal.lib.ru/g/gelxfand_w_w
[4]
Kopelew, Lew, Aufbewahren für alle Zeit, Hamburg 1976,
S.13-14.
[5]
unveröffentlicht, Museum des Großen
Vaterländischen Krieges, Minsk
[6]
unveröffentlicht, Museum Berlin-Karlshorst
[7]
Weder auf deutscher noch auf sowjetischer Seite wurden geschlossene
weibliche Kampfverbände eingesetzt.