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»14.1. 1945: 4.50 Uhr morgens. Draußen herrscht noch undurchdringliche Finsternis, und der Fritz setzt uns mit wütenden Angriffen zu....Es ist die Hölle: Ringsum donnern die Geschosse, heulen, pfeifen und bellen, und du sitzt da, zwischen Leben und Tod, und kannst nur warten, wie das Schicksal, das ja schon einige male in dein Leben eingegriffen hat, entscheiden wird....Der Deutsche ist ein Vollidiot und feuert. Soll er doch. Unsere Beobachter werden anhand der Blitze seine Feuerstellungen ausmachen, und dann werden unsere Kanonen dort alles ausradieren...« Der 21jährige sowjetische Leutnant Wladimir Gelfand hielt diese Gedanken fest, während er im 1052. Schützenregiment der Roten Armee südlich von Warschau einen Granatwerferzug befehligte, um gen Westen vorzustoßen und das nationalsozialistische Deutschland endgültig zu besiegen. Die authentischen, sehr persönlichen Aufzeichnungen, Notizen und Briefe Wladimir Gelfands, die nun verdichtet als Deutschland Tagebuch im Aufbau Verlag vorliegen, ermöglichen einen Einblick in die Erlebnisse und Gedankenwelt eines Offiziers der Roten Armee. Gelfand versteht sich als aufrichtiger Chronist. In seinen Aufzeichnungen hält er den militärischen Alltag, dem er offensichtlich nicht viel abgewinnen kann, fest. Er beschreibt das Erleben von Kameradschaft unter den Soldaten, aber ehrlicherweise auch das Gegenteil, wie Neid, Streitereien, Verleumdungen, Diebstahl untereinander. Von seinen Vorgesetzten in der Armee ist er enttäuscht, er fühlt sich bei Auszeichnungen übergangen, sieht sich als Spielball ihrer Machtgelüste. Auch wenn diese Ungerechtigkeiten, sogar Morddrohungen werden ausgesprochen, offensichtlich auf antisemitischen Ressentiments gegenüber der jüdischen Herkunft Gelfands beruhen, führt er selbst diese Benachteiligungen auf die Dummheit, Rohheit und Intellektuellenfeindlichkeit seiner Umgebung zurück. Das scheint typisch für den Literaten und Schöngeist Gelfand: er beschreibt die Ereignisse ehrlich und ohne Scheu, auch Unschönes oder Grausames wird benannt, gleichzeitig mangelt es ihm an der Fähigkeit, das Erlebte in einen größeren gesellschaftspolitischen Rahmen zu stellen. Im April 45 trifft er zufällig auf eine junge Frau, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung durch Soldaten der Roten Armee geworden ist und darunter leidet. |
Gelfand ist voller Mitgefühl, mehr aber auch
nicht, er reflektiert diese sexualisierte Gewalt in keinster Weise. Er,
der sich im Frühjahr 1942 freiwillig zur Roten Armee gemeldet, die
Brutalität des Krieges persönlich erlebt hat und weiß, das ein Großteil
seiner Verwandten von den Nationalsozialisten in Gaswagen ermordet
worden ist, will nach dem Sieg nur noch schnell nach hause. Im Juni
1945 schreibt er der Mutter, dass ihm »das Militärleben ... überhaupt
nicht gefällt – alles quält und bedrückt mich hier«. Der Sieger Gelfand leidet unter dem strengem Reglement des Militärs. Wie viele andere unterwirft er sich nicht der Disziplin und nimmt sich persönliche Freiheiten heraus, er dehnt Dienstfahrten aus und organisiert auf dem Schwarzmarkt. Jenseits der familiären und gesellschaftlichen Kontrolle bietet sich ihm, dem jungen, gutaussehendem Mann, die Möglichkeit sexueller Kontakte sowohl mit russischen wie auch mit deutschen Frauen. Gelfand scheint keine Gewalt anzuwenden, reflektiert aber auch nicht seine machtvolle Position als Besatzer gegenüber seinen Bekanntschaften. Die sexuellen Abenteuer führen nicht nur bei ihm zur Gonorrhöe und damit zu einer unangenehmen Behandlung im Krankenhaus. Am 10. September 1946 wird Gelfand endlich demobilisiert. Er holt er das Abitur nach und studiert Literatur. Seinen Lebensunterhalt verdient er dann allerdings als Berufsschullehrer in Perm. Erst 6o Jahre alt stirbt er plötzlich, ohne seinen geplanten großen Kriegsroman geschrieben zu haben. Gelfands Aufzeichnungen können und sollten sicherlich nicht verallgemeinert werden. Das Tagebuch ist ein persönliches und dadurch ein seiner Einzigartigkeit so spannend und aufschlussreich: ein kriegsmüder, lebenshungriger, idealistischer junger Mann, Leutnant der Roten Armee dokumentiert, was ihn während und unmittelbar nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland bewegt. Nicht von Hass oder Wut geleitet, was zu verstehen wäre, sondern neugierig geht er auf die deutsche Kultur und die Bevölkerung zu. Inmitten des Chaos und der Zerstörung entdeckt Gelfand neue Freiheiten wie z.B. das Fotografieren oder das Radfahren für sich: dieser Besatzer wirkt sehr menschlich, eine interessante Sicht auf ein Mitglied der Roten Armee, auch wenn der historische Kenntnisstand über die Rote Armee, das Verhalten ihrer Soldaten und Offiziere noch viel zu gering ist. |
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Wladimir Gelfand, Deutschland Tagebuch 1945-1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten. Aufbau Verlag, 2005, 357 S., 22.90 Euro |